Weißrusslands kalter Bürgerkrieg

Tatiana Montik
Автор
Tatjana Montik журналист
Дата последнего обновления:
25 июля 2023

Das Land erlebt einen Exodus junger Menschen. Aber viele andere wollen bleiben und für Demokratie kämpfen

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Konzert in einem Rockclub von Minsk. Eine junge Band spielt Songs über die Heimat, die Freiheit und den Sinn des Lebens. Die Songs sind auf Russisch und auf Weißrussisch. Auf Weißrussisch sollte man in Belarus als Rockmusiker jedoch lieber nicht singen. Denn wer Weißrussisch spricht, wird schnell ins Oppositionslager eingereiht. Und das, obwohl Weißrussisch neben Russisch die offizielle Amtssprache ist. Das aber nur auf dem Papier.

Es gibt in Weißrussland (offiziell Republik Belarus) sogenannte schwarze Listen der Sänger, die als regierungsfeindlich gelten und denen öffentliche Auftritte, ob live, im Radio oder im Fernsehen, verboten sind. Sie besaßen die Frechheit, ihre kritischen Kommentare zur Zerschlagung der Proteste, die auf die Präsidentschaftswahl im Dezember 2010 folgten, öffentlich abzugeben.

Einer dieser jungen Rockmusiker, Gitarrist Sergej Kazakow (20), hat inzwischen viele Fans. Berühmt wurde er zunächst nicht durch seine Musik, sondern vor allem durchs Internet, als er, damals 18-jährig, wegen seiner Teilnahme an den Protesten gegen die Wahlfälschungen zu sieben Monaten Haft verurteilt wurde.

Studium verboten

Sergej wird — wie viele andere politisch aktive junge Leute in seinem Land — nach seinem Gefängnisaufenthalt zu keinem Universitätsstudium mehr zugelassen. Er ist ein aktives Mitglied der Organisation Jewropejskaja Belarus (Europäisches Belarus). Mit Freunden und Gleichgesinnten organisiert er regelmäßig Protestaktionen und Flashmobs, die bisher letzte jüngst im Gorki-Park in Minsk, als die jungen Aktivisten die historische, offiziell verbotene weiß-rot-weiße Fahne hissten.

1996 hatte Präsident Alexander Lukaschenko die sowjetischen Republiksymbole — Flagge, Hymne und das Wappen — wieder eingeführt, und die alte historische Symbolik wurde verboten. Im Gegenzug tragen die Regimegegner bei ihren Protestaktionen die historischen Fahnen und das alte Wappen mit dem Ritter Paghonja als Symbole ihres Kampfes für die Freiheit. Auch bei der letzten offiziell genehmigten Protestaktion am Tschernobyl-Gedenktag trugen Kazakow und seine Freunde die historischen Fahnen zusammen mit Flaggen der Europäischen Union.

Die Erziehung von Staatsbürgern im Belarus der Lukaschenko-Zeit wird nach sowjetischen Mustern betrieben: Die Weißrussen sollen möglichst ohne Bezug auf die eigene Identität und die nationalen Traditionen erzogen werden. Deshalb wird die weißrussische Geschichte simplifiziert und zum Teil ad absurdum geführt:

Im offiziellen Geschichtsunterricht geht die Geschichte der altweißrussischen Fürstentümer, die einst der Kiewer Rus ebenbürtig und manchmal sogar überlegen waren, weitgehend unter. Valer Bulghakau, Chefredakteur des wissenschaftlich-historischen Magazins «Arche», klagt, für die weißrussischen Kinder beginne die weißrussische Geschichte frühestens nach der dritten Teilung Polens 1795 und spätestens mit der Befreiung Minsks von den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg.

Ähnlich verhält es sich mit der Sprache. Ihren Kampf gegen die weißrussische Sprache und die nationalen Eliten hatte die Lukaschenko-Regierung bereits Ende der 1990er begonnen — mit der Schließung des nationalen Jakub-Kolas-Lyzeums von Minsk und später mit dem Verbot der Europäischen Humanitären Universität (EHU). Die beiden wurden als «Hort der Opposition» denunziert.

Seitdem hat die EHU ihren Sitz in Vilnius, der litauischen Hauptstadt. Viele Studenten, die in ihrer Heimat aufgrund ihrer politischen Ansichten nicht studieren dürfen, fahren nach Litauen, wo sie an dieser Universität ihr Studium auf Weißrussisch fortsetzen können. Oder sie wandern nach Tschechien, Polen oder in andere EU-Staaten aus, um dort ihren akademischen Abschluss zu machen.

Nina Schydluskaja, Vorsitzende des Rats der Vereinigung der Weißrussen im Ausland, Bazkauschtschyna (Vaterland), zieht Bilanz: «Während der Regierungszeit Lukaschenkos hat die weißrussische Kultur einen großen Rückschritt gemacht — in Richtung Russifizierung. Bei nominaler Gleichberechtigung der beiden Staatssprachen Russisch und Weißrussisch ist Russisch dominierend.» Ohne die eigene Sprache aber sei eine Nation bedroht, weil sie nach und nach ihre Identität verliert. Im Staatsfernsehen gibt es nur noch einige wenige Formate in Weißrussisch.

Inzwischen verlassen die Klügsten und Leistungsfähigsten nach und nach das Land — Künstler, Wissenschafter, Programmierer, Ingenieure, Ärzte, Studenten, aber auch hochqualifizierte Bauarbeiter und Militärs. Schätzungen sprechen von 600.000 bis 1,3 Millionen, die allein in den letzten zwei bis drei Jahren ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben und gegangen sind — in den Westen, aber auch nach Russland, wo man viel besser verdienen kann. Seit der Währungskrise nach der Präsidentschaftswahl 2010 erlebt Belarus einen Braindrain ungeahnten Ausmaßes.

Die Verbliebenen teilen sich in zwei Lager: diejenigen, die sich an die vermeintlichen sowjetischen Werte von Stabilität und einem Mindestmaß an sozialem Schutz halten und dafür nationale Identität und persönliche Freiheiten zu opfern bereit sind; und jene, die für Belarus einen eigenen Entwicklungsweg sehen und für die persönliche Entfaltung und Freiheit wichtiger sind als eine vermutete mittelfristige Stabilität.

Rückzug ins Private

Sänger Ljawon Wolski spricht von einem kalten Bürgerkrieg: «Unsere Nation ist tief gespalten. Sie wurde desintegriert. Und die Menschen ziehen sich deshalb lieber in die Privatsphäre zurück, wo sie nur ihre Familie und ihre engsten Freunde haben. Und sie reden lieber nicht über die Politik.»

Rockmusiker Sergej Kazakow hat in seinem bewussten Leben keinen anderen Präsidenten als Lukaschenko erlebt. «Viele meiner Freunde wissen nicht, dass das Leben anders sein kann — ohne ideologische Indoktrination, ohne politische Gefangene, ohne Druck und Demütigung durch den Staat», sagt der junge Mann. «Das Einzige, was uns Jugendlichen übrigbleibt, sind die Internetressourcen, aus denen wir auch die nicht staatlich gelenkten Informationen schöpfen können. Nur dank Internet haben wir eine Vorstellung davon, was in unserem Land tatsächlich los ist. Doch viele junge Leute wurden in einer derartigen Angst erzogen, dass wir mit jedem einzeln sprechen müssen, um ihnen klarzumachen, dass viel von uns selber abhängt und dass niemand außer uns selbst unser Land ändern kann.»

In Sergejs Freundeskreis sind bereits viele ausgewandert oder nehmen es sich fest vor. Sergej will bleiben und weiter kämpfen. (Tatjana Montik aus Minsk, DER STANDARD, 5.6.2012)

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