Weihnachtsgeschichte aus Kiew

Tatiana Montik
Автор
Tatjana Montik, журналист
Дата последнего обновления:
25 июля, 2023

Ich erlebte das einmal in Kiew kurz vor dem Jahreswechsel. Die Stadt, damals voller Hoffnung und Anmut, war hübsch geschmückt und erstrahlte in tausend bunten Lichtern. Die Stadtbewohner hatten keine Ahnung, welche Bewährungsproben ihnen bald zuteil werden würden.  Glücklich und voller Zuversicht schauten sie in die Zukunft und sie freuten sich auf die kommende satte, lange und faule Festzeit.

In ihre freudigen Vorbereitungen vertieft, liefen die Menschen durch die Geschäfte auf der Suche nach netten und ganz besonderen Geschenken für ihre Liebsten.

Jener Winter war hart, schneereich, mit Schneestürmen und Verwehungen. Die Passanten gingen durch die Straßen mit hochgekrempelten Krägen, in die sie ihre Gesichter tief versteckten. Wenn man sich nicht bewegte, ließ der Frost, der unter minus 20 Grad Celsius ging, einen an der Stelle erstarren. Sobald die Menschen ihr gemütliches Zuhause oder die duftenden Geschäfte oder ihre warmen Büros verließen, beeilten sie sich schnell wieder ins Warme.

Auch ich rannte schnell nach Hause von der Museumsgasse zum Europa-Platz und dann schnell zum Kreschtschatik und weiter hoch zur Michailowski-Gasse, wo mein Haus lag.

In der Gruschewski-Straße, vor einem chinesischen Imbiss-Lokal, erblickte ich plötzlich einen Mann, dessen Anblick mich zum Stehen brachte.  Offensichtlich war das der einzige Mann in der ganzen Stadt, der keine Eile hatte und dem der Frost und die Kälte nichts auszumachen schienen. Der Mann war in einen alten abgetragenen Mantel gekleidet, und er hatte weder Mütze noch Handschuhe an. Konzentriert und ohne auf andere Acht zu geben, suchte der Mann nach etwas in einer großen Mülltonne. Ganz wahrscheinlich war er hungrig und neben dieser Imbiss-Stube hoffte er, die Reste von jemandes Mahlzeit zu entdecken, um sich davon zu sättigen.

„Wer ist dieser Mensch? Und was mag ihn in diesen armseligen Zustand gestürzt haben, wenn einen nur eine Mülltonne vorm Verhungern zu retten vermag?“ diese Frage schoss durch meinen Kopf wie ein Blitz und verursachte mir Kopfschmerzen.

Ich fühlte mich von einer Mischung aus Neugier, Bitterkeit und Trauer ergriffen, was mich den Frost und Schneesturm schnell vergessen ließ. Ich schaute mir diesen Mann genauer an.

Sein Gesicht, das sich durch nichts Besonderes bemerkenswert machte, war ein gewöhnliches Gesicht eines durchschnittlichen Mannes mittleren Alters, der einmal zur Sowjetintelligenz gehört haben durfte. Was hatte ihn in den Abgrund von Armut und Obdachlosigkeit geführt? Über diese Fragen nachzudenken, hatte ich aber keine Zeit.

Ich wühlte schnell in meiner Tasche und fand dort einen 10-Griwnja-Schein, damals noch eine recht anständige Summe. Ich ging an den Obdachlosen heran und drückte ihm schnell diesen Schein in die Hand und sagte leise: „Das ist für Sie! Bitte wühlen Sie nicht in der Mülltonne! Gehen Sie lieber nach drüben und kaufen Sie sich dort etwas zum Essen“.

Diese Worte von mir überraschten den Mann. Er blickte zu mir hoch, dankte ebenfalls im Flüstern, und mir schien, als hätte ich Tränen in seinen Augen gesehen.

Ich verabschiedete mich schnell von ihm und ging weiter. Meine Eile und den bitteren Frost hatte ich vergessen.

Auf dem Weg nach Hause quälten mich tausende Gedanken. Sie kreisten um die Unvollkommenheit unserer Welt sowie darum, wie schnell doch der Mensch, ohne es zu erwarten und ohne gesündigt oder etwas verbrochen zu haben, in den Abgrund geraten kann. Selbst wenn man heute ganz oben steht, ist das kein Schutz vorm Fall. Niemand von uns hat Garantien, und darin liegt die einzige Gerechtigkeit dieser Welt. Und in dieser Gerechtigkeit liegt die einzige wirkliche Gleichberechtigung. Das Leben ist ein Lottospiel, und das glückliche Los wird nicht dem Heiligen zuteil.

Als ich zu Hause ankam, spürte ich, dass meine Tränen auf den Wangen zu Eis geworden waren.

Es vergingen einige Tage.

Eines Nachmittages, der genauso kalt, aber klar und sonnig war, ging ich dieselbe Straße entlang, als jemand mich einholte und mich sachte an der Schulter anfasste. Es war der Mann, dem ich vor kurzem zu seiner Mahlzeit verholfen hatte.

 

„Grüß Sie Gott! sagte der Mann. Können Sie sich an mich noch erinnern?“ – „Freilich kann ich das!“ sagte ich und lächelte ihm entgegen. –„Ich habe für Sie ein kleines Geschenk“, sagte der Mann und er holte aus seiner Tasche irgendein Ding heraus. Als er seine Hand öffnete, sah ich eine kleine Figur, einen kunstvoll aus Holz geschnitzten Krokodil.

 

„Ich trage ihn seit einigen Tagen mit mir in der Hoffnung, dass ich Sie treffen würde“, sagte der Mann zu mir. „Ich möchte gerne, dass sie es annehmen, dass Sie es wissen: Ich bin kein gänzlich verlorener Fall, ich kann auch etwas machen mit meinen Händen, ich…“  Dem Mann gingen die Worte aus, er verabschiedete sich von mir schnell und eilte davon, ohne auf meine Dankesworte zu achten.

 

Nach dieser Begegnung habe ich mein Verhältnis zu den Weihnachts-Geschenken verändert. Mehr und mehr habe ich das Gefühl, dass wir jene viel zu selten beschenken, die es tatsächlich nötig haben.

Tiflis-Tschoporti, am 14. Dezember 2015

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