Die erste Insel des Archipel Gulag

Tatiana Montik
Автор
Tatjana Montik, журналист
Дата последнего обновления:
25 июля, 2023


Neue Ausgrabungsfunde aus der Zeit des Roten Terrors lassen darauf schließen, dass das Gelände der Peter-und-Paul-Festung in Sankt Petersburg die erste Insel des „Archipel Gulag“ war. Aber das offizielle Russland blockt eine offene Vergangenheitsdebatte ab.

Die Haseninsel von Sankt Petersburg: Hier hatte Zar Peter der Große 1703 seine neue nördliche Hauptstadt, Russlands sogenanntes Fenster nach Europa, gegründet. Die Peter-und-Paul-Festung gilt als der Ursprung von Sankt Petersburg. Heute befindet sich in der Festungsanlage ein Museum. Auf dem Museumsgelände, wo sich einst der Münzhof der russischen Zaren befunden hatte, wird derzeit ein großer Parkplatz für Lkws und Busse gebaut. Ende Dezember fanden die Bauarbeiter beim Ausbaggern sterbliche Überreste vonmehreren Personen, von denen bereits bekannt ist, dass sie einen gewaltsamen Tod erlitten hatten.

Als die Entdeckungen bekanntwurden, suchte der Vorsitzende der Sankt Petersburger Denkmalschutz-Gesellschaft, Alexander Margolis, sofort den Fundort auf. „An der Ausgrabungsstelle wurden zuerst ein menschliches Skelett, eine Goldkette mit Kreuz und ein Medaillon gefunden. Dann förderten die Archäologen noch weitere 16 Leichen zutage. Die Grube, in der die Leichen gefunden wurden, ist für 17 Leichname viel zu klein gewesen. Sie schienen in die Grube regelrecht hineingepresst worden zu sein“, erzählt Margolis.

Wladimir Kildischewski, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für materielle Kultur der Russischen Akademie der Wissenschaft, berichtete vom Ausgrabungsort: „Früher wurde vermu Tatjana Montik aus St. Petersburg tet, dass an diesem Ort Unteroffiziere und Offiziere der weißrussischen Armee beigesetzt wurden. Aber unsere neuesten Funde zeugen davon, dass es sich vermutlich nicht einfach um Offiziere, sondern um Menschen von höherem Status handelt.“

Opfer des Roten

Terrors Derzeit werden die Funde von den Experten einer forensischen Kommission untersucht. Aber bereits jetzt steht für die Sankt Petersburger Wissenschafter fest: Bei den sterblichen Überresten handelt es sich um Opfer des sogenannten Roten Terrors, die in den Jahren 1918/19 hingerichtet wurden. Die bolschewistische Regierung hatte den Roten Terror im August 1918 ausgerufen – als Reaktion auf ein Attentat auf Revolutionsführer Wladimir Lenin.

Aus historischen Quellen ist bekannt, dass allein imersten Monat des Roten Terrors in Petrograd (der damalige Name von Sankt Petersburg) nicht weniger als 800 Geiseln erschossen wurden. Die Petersburger Historiker berufen sich auf Unterlagen, die im Archiv der amerikanischen Stanford University liegen und besagen, dass auf dem Gelände des Münzhofes der Peter-und-Paul-Festung in der Nacht vom 29. auf den 30. Jänner 1919 vier russische Großfürsten hingerichtet worden sind. Und diese Exekutionenwur-den – ohne Angabe der Hinrichtungsstelle – am 31. Jänner 1919 in der Petrograder Prawda bekanntgegeben. Angeblich waren diese Hinrichtungen eine Reaktion auf die Ermordung der deutschen Kommunistenführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin.

Unmittelbar nach dem Auffinden der Leichen sah sich die russische Menschenrechtsorganisation Memorial gezwungen, die Öffentlichkeit auf dieses Ereignis aufmerksamzumachen, denn der Direktor des Museums der Peterund-Paul-Festung, A. Koljakin, hatte zunächst angeordnet, die Bauarbeiten am Parkplatz unter keinen Umständen zu unterbrechen. Erst als Memorial für eine große Resonanz in den Medien sorgte, wurden die Bauarbeiten vorübergehend gestoppt. Memorial und die Sankt Petersburger Gesellschaft für Denkmalschutz wollen nun darum kämpfen, dass diese Arbeiten endgültig eingestellt werden. Ihrer Meinung nach handelt es sich bei dieser Stelle um mehrere Massengräber, die sich auf dem Festungsgelände befinden müssen.

Alexander Margolis, der vor der Wende als Leiter der wissenschaftlichen Forschungsabteilung im Museum der Peter-und-Paul-Festung gearbeitet hat, weiß das aus eigener Erfahrung: „In der Zeit der Sowjetunion wurde den Mitarbeitern der Festungsanlage streng verboten, darüber zu spre-chen, was in den Jahren nach der Oktoberrevolution auf dem Gelände der Festung geschah. Alle Führungen hatten mit der Oktoberrevolution zu enden. Und dennoch haben wir Wissenschafter Informationen über jene grausame Zeit gesammelt und sie ausgewertet, und alles lief darauf hinaus, dass die Haseninsel von Sankt Petersburg die erste Insel des Archipel Gulag (unter Stalinperfektioniertes Straf- und Arbeitslager-System, Red.) gewesen ist. Viele Erinnerungen, Tagebücher, Briefe und Zeugenaussagen bestätigen, dass in den Jahren 1918 bis 1922 die Peter-und-Paul-Festung ein Ort der Massenhinrichtungen war.“

Parkplatz statt Geschichte

Die Petersburger Menschenrechtler befürchten, die Museumsdirektion werde ähnlich handeln wie in den Jahren nach der Wende, als auf dem Festungsgelände regelmäßig sterbliche Überreste von hingerichteten Menschen gefunden wurden. Die Direktion verhinderte weitere Ausgrabungen und ordnete stattdessen vor einem Jahr den Bau eines Parkplatzes auf dem Gelände dieser Massenbegräbnisstätte an. Hinter dieser Handlungsweise dürftewohl nicht nur der Wunsch nach kommerzieller Nutzung der Fläche stecken, sondern auch ein politischer Wille, glaubt Irina Flige, Leiterin der Sankt Petersburger Abteilung von Memorial: „Die tragische Vergangenheit Russlands im 20. Jahrhundert wird bei uns konsequent ignoriert. So bleibt die Frage, was in der Sowjetunion in der Zeit des Großen Terrors stattgefunden hat, für Russland immernochaktuell, und das trotz der Bemühungen der Wissenschafter und Forscher und trotz derArbeit vieler bürgerlicher Initiativgruppen.“

Im Register von Memorial gibt es derzeit über 800Massenbegräbnisstätten. Davon haben weniger als ein Dutzend den offiziellen Status eines Mahnmal-Friedhofs. Irina Flige bemängelt: „Der russische Staat möchte sich mit dem Andenken an jene Zeit einfach nicht befassen. Selbst in den Lehrbüchern kommt dieses Kapitel der Geschichte nur flüchtig vor. Und die gesellschaftliche Debatte über Russlands Geschichte im20. Jahrhundert findet nicht statt.“ Die
Memorial-Direktorin ist überzeugt: Amausbleibenden öffentlichen Dialog über Russlands jüngere Geschichte trägt nicht zuletzt der russische Staat eine große Schuld. Und all das führe dazu,
dass Russland das materielle Andenken an jene grausame Zeit fehle und diesem Kapitel der russischen Geschichte bald das Vergessen drohe.

Die Sankt Petersburger Menschenrechtlerwollen noch im Jänner gegen die Museumsdirektion eine Klage vor Gericht einreichen. Denn ihrer Ansicht nach haben diese Funde auf dem Festungsgelände nicht nur für die Denkmalschützer, sondern für die gesamte russische Gesellschaft eine kolossale Bedeutung. Gespaltenes Bewusstsein Irina Flige: „Seit der Mitte der 1990er-Jahre ruhen in der Peter-und-Paul-Festung die Mitglieder der Zarenfamilie, die Verwandten jener Großfürsten, deren sterbliche Überreste noch nicht gefunden sind. Es schien einerseits, dass Russland einen Prozess der Reue über das im 20. Jahrhundert Geschehene eingeleitet hatte. Und andererseits stoßen wir auf eine herausfordernde und anmaßende offizielle Vergangenheitsverdrängung. Es ist ein perfektes Zeugnis für das gespaltene Bewusstsein des heutigen Russland.“

Deshalb sei es nicht nur für die Denkmalschützer, sondern auch für Sankt Petersburg und für ganz Russland wichtig, diese Ausgrabungen bis zum Ende zu führen und hier ein Mahnmahl und vielleicht eine Ausstellung über die Zeit des Roten Terrors anzulegen. „Dennwirwissen inzwischen gut: Die ersten Opfer der Massenrepressionen des 20. Jahrhunderts liegen in dieser Erde.“ Am 31. Jänner will die Sankt Petersburger Abteilung von Memorial mit einer öffentlichen Aktion der Erschießung der russischen Großfürsten vor 91 Jahren gedenken.

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