Wie ein Damoklesschwert über unserem Land

Tatiana Montik
Автор
Tatjana Montik журналист
Дата последнего обновления:
25 июля 2023

Er hat den letzten Zaren und alle sowjetischen Herrscher er- und überlebt: Im Lebenslauf des 98-jährigen Pawel Galizki spiegelt sich die gesamte russische Geschichte des 20. Jahrhunderts wider.

Hätte er jemals geahnt, durch welche Teufelsmühlen ihn das Schicksal treiben würde? Drei Hungersnöte – 1921, 1931 und 1936 – hat er überlebt. Und alswäre das nicht genug gewesen, folgten kurz darauf 15 furchtbare Jahre in den stalinistischen Arbeitslagern. Pawel Galizki kam 1911 in einer kleinen Siedlung am Asowschen Meer als Sohn eines Priesters in der fünften Generation zur Welt. Kurz nach der bolschewistischen Revolution 1917 starb Pawels Vater, Kalinnik Illarionowitsch, im kommunistischen Gefängnis, das sich im ehemaligen Kloster befand. Pawels Mutter, Jekaterina Viktorowna, blieb mit ihren fünf kleinen Kindern allein zurück.

Fünf ältere Geschwister lebten bereits selbstständig. Seinen älteren Bruder Sergej, einen begabten Künstler, hatte Pawel in den Bürgerkriegswirren für immer aus den Augen verloren. Erst in den 1970ern konnte er in Erfahrung bringen, dass jener mit den Truppen des weißrussischen GeneralsWrangel nach Frankreich ausgewandert war. Als Fremdenlegionär kam er später in Marokko ums Leben.

Eine sehr weise Frau

Pawels Mutter zog mit den Kindern zu ihrem Bruder auf die Halbinsel Krim, wo der kleine Pawel von den Revolutionsideen angesteckt wurde. Seine Mutter war „eine sehr weise Frau“, sagt Pawel. Wenn die Nachbarn ihr, der ehemaligen Popenfrau und Tochter eines Popen, berichteten, ihr Sohn Pawel marschiere mit Freunden durch das Dorf und singe dabei „Nieder mit Mönchen, Rabbinern und Popen! Die Wissenschaft hat belegt: Es gibt keine Götter!“, erwiderte sie gelassen, die Zeiten hätten sich geändert. Hat er trotz seiner Abstammung an die Ideale des Kommunismus geglaubt? – „Und ob! Ich glühte und brannte! Ich glaubte sogar an all die Märchen von‚ unserem guten Großväterchen Lenin‘, der angeblich vom ganzen Land Lebensmittelgeschenke bekam und sie alle an die Kinder weiterverschenkte, um selbst Hunger zu leiden. Dabei ist Lenin trotz all seiner Genialität ein Monster gewesen, das die KZs erfunden hat. Hitler hat später von Lenin gelernt.“

Doch all diese Wahrheiten wurden Galizki viel, viel später zuteil. Zunächst zog er zusammen mit zwei Freunden von der Krim nach Leningrad, das heutige Sankt Petersburg, umim Militärwerk Arsenal als Schmied und als Chefredakteur derWerkszeitung zu arbeiten und parallel dazu Journalistik zu studieren. Damals wurde er Komsomolze (Mitglied der KP-Jugend) und sogar Mitgliedskandidat für die Kommunistische Partei. Doch der Partei durfte er nicht sofort beitreten, denn zusammen mit den Vertretern des Adels und denwohlhabenden Bauern gehörte er als Sohn eines Popen zum „Abschaum der Gesellschaft“. Die vierjährige Probezeit für die Parteimitgliedschaft bestand Galizki nicht. In jene Jahre fielen die schlimmsten stalinistischen Säuberungen, als „jedermann jedermanns Feind wurde“.

1937 sei der Höhepunkt des Terrors gegen das eigene Volk gewesen, das Land
habe in Angst gelebt, während die Menschen immer verschlossener wurden. 1937 holte man auch ihn, ausgerechnet an dem Tag, als er mit seiner mit ihrem zweiten Kind schwangeren Frau unterwegs zur Entbindung war. Man unterstellte ihm „antirevolutionäre Tätigkeit“ und Beziehungen zum „fremden Element“. „Es war meine Mutter, die Priesterfrau, diemitmeiner Familie zusammenlebte, zu der ich die ‚Beziehungen‘ unterhielt. Hätte ich sie, eine alte Frau, wegen ihrer Herkunft vor die Türsetzen sollen“? Er habe keinen Strafprozess erhalten, sondern wurde von der sogenannten Troika, dem Chef des NKWD, demSekretär des Parteikomitees und dem Staatsanwalt, zu zehn Jahren Haftstrafe verurteilt. „Ich habe noch Glück gehabt, denn
die meisten von meiner Sorte wurden auf der Stelle erschossen.“

Zuerst ging er auf einer Etappe über Tschita nach Burjatien, wo er die Eisenbahn Ulan-Ude–Ulan-Bator mitbaute, und danach, 1938, in ein Gefangenenlager an der Kolyma in Nordostsibirien, wo er im Sommer Gold wusch und im Winter Kohle abbaute. Im Laufe der Jahre wurde seine Haftstrafe verlängert: „Wir waren bereits im Krieg. In einem Gespräch hatte ich gemeint: Hätte es keine Prozesse gegen die Spitze der Roten Armee gegeben,würde derKrieg eine ganz andere Wende nehmen. Jemand hat mich denunziert.“

Minus 67 Grad

Wie verhielten sich die Gefangenen zueinander? „Mein Gott, welche Verhältnisse! Dort dachte jeder nur an das eine: wie er möglichst wenig arbeiten und dafür möglichst viel zu essen bekommen kann. Doch es kam anders: Wir schuftetenwie die Esel 16 Stunden pro Tag, und die Leute starben wie die Fliegen. Am 31.Dezember 1939 zeigte das Thermometer minus 67 Grad. Gott sei Dank hat man uns an jenem Tag freigegeben, weil wir unseren Plan zu 160 Prozent erfüllt hatten – auf den Knochen unserer Mitgefangenen.“

Ist der Gulag wirklich so furchtbar gewesen, wie Alexander Solschenizyn ihn in seinen Werken beschreibt? Der 98-Jährige runzelt die Stirn: „Solschenizyn hat vieles nicht beschrieben. Zum Beispiel, wie sich die Menschen selbst verkrüppelten, umnicht zur Arbeit gehen zumüssen, oderwie dieWächter die Kriminellen, die Gefangenen demütigten und folterten.“ Was gab ihmdie Kraft zum Überleben? „Ich habemich gedreht und gewendet, um zu überleben. Ich habe aufgehört zu rauchen und tauschte meinen Tabak gegen Brot um. Bei der Goldwäsche steckte ich mir kleine Goldpartikel in den Mund, die ich dann mit den auf freiem Fuß Lebenden gegen Tabak tauschte, den Tabak machte ich dann zu Brot.“ Auch seine Gedichte, die er in den Nächten schrieb und von denen viele von der Lageraufsicht beschlagnahmt wurden, hätten ihn am Leben erhalten.

Erst nach dem Tod Stalins 1953 durfte er von der Kolyma weg. Und dennochwar er vollkommen rechtlos, ein sogenannter Lischenez, dem nach der Haftstrafe alle Bürgerrechte abgesprochen wurden. Er durfte sich nicht näher als in 100 Kilometer Entfernung zu einer Großstadt ansiedeln. So kamen Pa-wel Galizki und seine Familie in die Nähe von Tula, wo er in einem Kohlebergwerk als Chef einer Zeche arbeitete. Jene Siedlung bestand zur Hälfte aus ehemaligen Häftlingen. 1957 wurde er rehabilitiert. Aber in die Stadt seiner Jugend, nach Leningrad, kehrte Pawel Galizki erst 1983 zurück.

Pawel Galizkis Glück ist seine große Familie, vor allem aber sein jüngster Enkel Dmitri (20), der den Großvater regelmäßig besucht: „Der Großvater ist meine Idealvorstellung von einem Mann. Ich liebe ihn über alles und möchte unbedingt so werden wie er. Er ist die wichtigste Person meines Lebens, immer voller Energie und Optimismus und immer hilfsbereit.“ Seit seiner Kindheit hat sich Dmitri mit seinem Großvater über dessen Schicksal und die russische Geschichte unterhalten. Dank des Großvaters kann sich Dmitri den Alltag in der Sowjetunion sehr bildhaft ausmalen: „Ich stelle mir alles in Grautönen vor. Es war eine Zeit der großen Wirren, und die Menschen hatten es damals in der Tat äußerst schwer. Hört man sich jedoch unsere Rentner heute an, könnte man zur Schlussfolgerung gelangen, in der Sowjetunion sei alles viel besser gewesen als heute. Doch ich bin überzeugt, dass das überhaupt nicht stimmt.“

Gesteuertes Volk

Seine Altersgenossen interessieren sich für Politik und Geschichtewenig, sagt Dmitri. Er persönlich diskutiere aber oft mit seinem Großvater über die Zustände im modernen Russland „Leider ist unser Land von den westlichen Werten immer noch sehr weit entfernt. Es gibt bei uns weiter keine Redeund keine Persönlichkeitsfreiheit. Unser Volk wird gesteuert, Demokratie ist nach wie vor Utopie.“

Pawel stimmt Dmitri zu: Russland habe lediglich eine „Demokratie nach Putin’schem Zuschnitt“. Dabei müsste das Land dringend eine Art Nürnberger Prozess durchmachen, eine Entsowjetisierung, um die Verbrecher des Stalinismus zu verurteilen. Auch wenn diemeisten Täter von damals nicht mehr lebten, brauche Russland einen solchen Prozess, „damit die Menschen nicht vergessen, dass es in ihrem Land einen Terror gegen das eigene Volk gegeben hat. Solangewir denKommunismus nicht verurteilen, wird er über unserem Land wie das Schwert des Damokles hängen“.

Repression und Ausbeutung

Die Abkürzung Gulag steht im Russischen für Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und ist gleichzeitig das Synonym für ein umfassendes Repressionssystem in der Sowjetunion, bestehend aus Zwangsarbeitslagern, Straflagern, Gefängnissen und Verbannungsorten. Bereits unter Zaren gab es in Russland Straflager für politische Gefangene und Kriminelle.

Nach der Revolution 1917 wurden unter Lenin sogenannte Internierungslager für Klassenfeinde, politische Feinde und Kriminelle eingerichtet. Unter Stalin wurde das System perfektioniert. Die Gesamtzahl der Menschen, die in der Sowjetunion zwischen Ende der 1920er- und Mitte der 1950er-Jahre in Lagern oder Kolonien gefangen gehalten wurden, wird von der jüngeren Forschung mit 18 bis 20 Millionen angegeben. Die unmenschlichen Lebensbedingungen, Unterernährung, Folter und Kälte führten zum Tod vieler Hunderttausender Häftlinge. Am höchsten war die Sterblichkeit während der Kriegsjahre 1942/43, als durch extreme Verknappung der Versorgung und eine noch rücksichtslosere Ausbeutung der Häftlingsarbeiter jeweils fast ein Viertel aller Lagerinsassen starb.

Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn hat das Lagerleben beispielhaft in seiner Novelle „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ (1962) beschrieben. Nach dem Erscheinen seines Monumentalwerks „Der Archipel Gulag“ 1974 wurde Solschenizyn aus der Sowjetunion ausgewiesen. Er kehrte erst 1994 zurück und starb 2008 in Moskau.

Tatjana Montik aus St. Petersburg.

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