Dem weissrussischen Oppositionsführer Aleksandr Milinkewitsch ist gestern in Strassburg der Sacharow-Preis 2006 verliehen worden. «Es gibt keineWunder! Nur harte Arbeit hat Erfolg», sagt der Lukaschenko-Kritiker.
Als Sacharow-Preisträger ste-hen Sie in einer Reihe mit Nelson Mandela, Kofi Annan oder Ibrahim Rugova. Welchen Wert hat der Preis für Sie persönlich?
Aleksandr Milinkewitsch: Ich war der Meinung, dass Belarus heute nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses der Weltöffentlichkeit steht. Ich dachte daher eher, der Preis würde nach Libanon gehen. Dieser Preis ist für mich eine grosse Freude, denn damit unterstützt Europa nicht mich persönlich, sondern Tausende von Menschen, die sich an den Protestaktionen der Opposition in Belarus beteiligten, die Mut,Charakter und Stärke zeigten. Dieser Preis ist für uns Weissrussen eine gewaltige moraliche Unterstützung.
Warum konnten sich im Frühling 2006 die Ereignisse in Minsk nicht nach dem Szenario entwickeln wie etwa in Kiew im Herbst 2004 während der oranen Revolution?
Der Unterschied zwischen Weissrussland auf der einen und Serbien, Georgien und der Ukraine auf der anderen Seite ist gewaltig. In der Ukraine etwa gab es keine Diktatur, sondern bereits eine unvollkommene Demokratie. Um auf den Platz zu gehen und zu protestieren, mussten die Menschen nur ihre Passivität überwinden. Keiner wurde dabei mit demVerlust der Arbeit, des Studien platzes oder gar der eigenen Freiheit konfrontiert. In derUkraine gab es unabhängige Abgeordnete und unabhängige Medien. Bei uns ist das alles leider nicht der Fall. Wir leben in einem vollkommen anderen Land. Warum haben wir nicht gewonnen? Beim ersten Anlauflässt sich eine derart brutale Diktatur wie die weissrussische nicht in die Knie zwingen.
Hatten Sie nie das Gefühl, dass Europa Belarus im Stich lässt?
Wir Weissrussen bekommen oft den Eindruck, dass Europa uns vergessen hat. Vor dem Gipfeltreffen der EU mit Russland in St.Petersburg etwa habe ich mich mehrmals an die europäischen Politiker mit der Bitte gewandt, die weissrussische Frage in Gesprächen mit Putin aufzugreifen. Leider ist es weder in Petersburg noch beim EU-Gipfel in Finnland dazu gekommen.
Was fehlt der weissrussischen Opposition zumErfolg?
Wir brauchen vor allem eine grosse Zahl von Menschen, die auf die Strassen gehen. Im Märzwaren es bis zu 30 000. Das war für unsere Bedingungen sehr erfolgreich, doch um die Diktatur zu stürzen, brauchen
wir das Zwanzig- bis Dreissigfache. Bei den Präsidentenwahlen wurde ich nur von 20 bis 30 rozent der Wähler unterstützt. Deshalbmuss die Opposition noch eine grosse Arbeit leisten. Und diese Arbeit ist nicht gegen Machthaber Aleksandr Lukaschenko gerichtet, sondern gegen Angst und Apathie. Sie zielt auf die Veränderung der Mentalität. Wir können nur durch die tägliche kleine Arbeit mit den Menschen siegen, durch Gespräche mit Einzelnen, denn freie Medien gibt es so gut wie keine mehr. Uns bleiben nur Flugblätter und persönliche Gespräche.
Hat sich die Repression gegen Andersdenkende nach den Massenprotesten verstärkt?
Ja, die Repression ist zynischer und brutaler geworden. Und die Machthaber suchen keine Vorwände mehr wie früher, als man die Oppositionellen etwa des Rowdytums beschuldigte und auf dieser Grundlage zu
Haftstrafen verurteilte. Das heutige Handlungsschema des Repressionsapparates sieht so aus: Man wählt ein Opfer aus den Reihen der aktivsten Oppositionsmitglieder aus und man versucht, diesen Menschen durch eine Gefängnisstrafe zu brechen, damit die anderen so etwas gar nicht wagen.
Wie viele Repressionsopfer gibt es derzeit in Ihrem Land?
Aktuell sind in Belarus aus politischen Gründen 16 Menschen zu längeren Haftstrafen oder zu Besserungsarbeiten verurteilt. Nach den Protestaktionen im März waren über 1000 Menschen für ein bis zwei Wochen im Gefängnis. Rund 500 Studenten verloren wegen ihrer politischen Tätigkeit den Studienplatz. Und landesweit haben Tausende von Menschen aus demselben Grund ihre Arbeitsplätze verloren.
Im Januar finden in Weissrussland Lokalwahlen statt. Obwohl Ihre Chancen denkbar gering sind, wollen Sie sich trotzdem daran beteiligen.Warum?
Diese Wahlen sind für uns eine Chance, die einfachen Menschen zu erreichen.Wir werden erneut versuchen, unseren Bürgern die Vision eines anderen Weissrusslands vorzustellen, eines Landes, in dem maHaben Sie weiter die Kraft, als Oppositionsführer zu arbeiten? Ich glaube, eine Mission zu haben. Sie besteht nicht darin, möglichst schnell den Präsidentensessel zu besetzen, sondern darin, mein Land zu Freiheit und Demokratie zu führen. Sollte morgen ein neuer Mensch kommen, der ein besserer Oppositionsführer wäre als ich, überlasse ich ihm meinen Platz gerne und schliesse mich seinem Kampf an. Doch derzeit sieht es so aus, dass ich unter den führenden Oppositionellen die höchste Beliebtheit habe. Vor der Wahl habe ich es unseren Bürgern versprochen: Ich werde dieses Land nach der Wahl nicht verlassen. Auch wennmir Gefängnis drohen sollte, gebe ich unseren Kampf nicht auf. Deshalb habenmir dieWähler geglaubt. Und ich werde sie nicht enttäuschen und bleibe dort, wo ich gebraucht werde.
Interview:
Tatjana Montik, Minsk