Georgiens berühmtester Sohn spaltet seine Heimat

Tatiana Montik
Автор
Tatjana Montik, журналист
Дата последнего обновления:
25 июля, 2023

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Mit dem friedlichen Machtwechsel nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen 2012 und 2013 hat Georgien auch nach Ansicht der EU einen großen Schritt in Richtung vollwertige Demokratie getan. Umso verwunderlicher erscheint die neue Stalin-Nostalgie

Man kann in Georgien überall Stalin-Skulpturen begegnen. In einem Dorf in Kachetien, im landwirtschaftlich geprägten Osten des Landes, gibt es etwa einen Mann, der aus Privatinitiative einen Stalin-Garten angelegt hat. Es gibt auch Bauern, die Stalin-Skulpturen, die sie aus öffentlichen Gebäuden ‘gerettet’ haben, in ihren eigenen Gärten aufstellen, berichtet die Kunstwissenschafterin Tamta Tamara Schawgulidse, die im Herbst eine Recherchereise unternahm, um die Stalin-Monumente auf dem Land zu analysieren.

Dabei fand sie heraus, dass «Stalin meistens Teil eines Denkmal-Ensembles ist, das den öffentlichen Raum um sich herum prägt». Bemerkenswert erscheine, dass es in Georgien üblicherweise zwei Typen solcher Denkmal-Ensembles gibt: die um die Gotteshäuser und die rund um Stalin. «Ich hatte den Eindruck, dass Stalin diesen Menschen als Befreier der Menschheit vom Faschismus Halt gibt, denn — wie sie sagen — man habe schließlich nur dank seiner und mit ihm den Krieg gewonnen. Und ohne diesen ‘großen Steuermann’ fühlen sie sich hilflos und ausgeliefert.»

Der Schriftsteller Irakli Lomouri (54) bestätigt: In Georgien herrsche gegenüber Stalin weiterhin Ehrfurcht, und das sei eine Schande. Viele seiner Landsleute sehen in Stalin einen Burschen aus Gori, vor dem später die ganze Welt in Angst und Ehrfurcht erstarrte. Für sie sei Stalin «die Personifizierung der Größe der georgischen Nation», sagt Lomouri.

Der Historiker und Schriftsteller Lascha Bakradse stimmt zu. Er hat im Frühjahr am «Stalin Puzzle», einer Studie der Carnegie-Stiftung, mitgearbeitet. Dabei kam er zu der Überzeugung, dass die andauernde Stalin-Verehrung in Georgien lediglich mit dem Minderwertigkeitskomplex einer kleinen Nation zu tun habe, mit dem falschen Stolz auf den vermeintlich großen Sohn Georgiens.
Für Stalin, gegen Moskau

Diese These belegt Bakradse mit einem wenig bekannten Detail aus der sowjetischen Geschichte Georgiens: Als zu Beginn der zaghaften Chruschtschow’schen Tauwetterzeit Stalin kritisiert wurde, gab es in Tiflis an Stalins Todestag am 5. März 1956 heftige Proteste, die nach vier Tagen blutig niedergeschlagen wurden. «Das war eine Zäsur für die georgische Geschichte in der Sowjetzeit», findet Bakradse, denn damals hätten die Georgier die kommunistische Ideologie und den Glauben an die Sowjetmacht zu Grabe getragen. Stalin wurde offiziell von der Sowjetmacht kritisiert, und wir haben zu ihm gehalten. Also waren wir gegen die Sowjetmacht».

Seit 2003 hatte die Regierung unter Präsident Michail Saakaschwili in ihrem Reformeifer versucht, über die sowjetische Vergangenheit Bilanz zu ziehen. 2006 wurde etwa in Tiflis das sogenannte Besatzungsmuseum eröffnet, in dem der Rote Terror anhand von Bildern, Filmen und Dokumenten belegt wird. An diesem Museum wird aber auch Kritik geübt, denn dort werden die Georgier als reine Opfer der bolschewistischen Invasion dargestellt. Und das entspricht nicht ganz den historischen Tatsachen, wenn man bedenkt, dass sich unter den Besatzern, die das sozialdemokratisch regierte Georgien 1921 eroberten, zahlreiche georgische Bolschewiken mit Sergo Ordschonikidse an der Spitze befanden. Und vor allem während des großen Terrors waren die Georgier nicht nur Opfer, sondern auch Täter und Mitläufer.
Keine tiefere Aufarbeitung

Ein weiterer Schritt zur Entsowjetisierung war das gesetzliche Verbot sowjetischer Symbolik. In Gori wurde im Juni 2010 im Auftrag der Regierung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Stalin-Denkmal abgerissen. Doch obwohl die Entsowjetisierung teils radikal ausfiel, blieb sie oberflächlich: Es gab keine wissenschaftlichen oder öffentlichen Debatten dazu.

Der Schriftsteller und Historiker Lascha Bakradze ist der Überzeugung: «Man muss der eigenen Geschichte zwar kritisch gegenüberstehen, aber nicht nur durch die Wegnahme von Symbolen, sondern man muss sie annehmen, wie sie war, und sich damit kritisch auseinandersetzen.»

Wato Tsereteli, der an der Tifliser Kunstakademie unterrichtet und mit der österreichischen Kunstexpertin Katarina Stadler das Zentrum für zeitgenössische Kunst leitet, beobachtet an den eigenen Studenten, «wie die durch das Sowjetregime verursachten Traumata das individuelle Potenzial der Menschen blockieren». «Wir sind täglich damit konfrontiert, dass die Leute, die nach dem Ende der Sowjetunion geboren wurden, trotzdem eine sowjetische Mentalität besitzen, weil ihre Eltern durch das sowjetische Regime determiniert sind», sagt Tsereteli. Schuld daran sei auch, dass Georgien nach dem Kollaps der UdSSR von einer Krise in die nächste geraten sei. (Tatjana Montik aus Tiflis, DER STANDARD, 2.12.2013)

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