David Garedschi

Tatiana Montik
Автор
Tatjana Montik журналист
Дата последнего обновления:
25 июля 2023

20150726_141520 20150726_145102 20150726_125242 20150726_135836

Reportage vom Grenzstreit zwischen Georgien und Aserbaidschan

Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gibt es viele Konflikte, die von Menschen oder Umständen vorprogrammiert wurden. Einige dieser Konflikte — wie etwa der in Transnistrien, in Nagorny-Karabach, Abchasien und Südossetien — sind bereits durch eine heiße Phase gegangen. Hier sind einfache Menschen zu Geiseln der Interessen derjenigen geworden, die das Recht für sich beanspruchen, die Schicksale, Stimmungen und Vorlieben der Massen zu manipulieren.

Andere Konflikte hingegen bleiben wie die Minen mit Langzeitwirkung, die jederzeit in die Luft gehen können, um neue Katastrophen auszulösen.

Einer dieser Konflikte ist der Grenzstreit zwischen Georgien und Aserbaidschan um das Stück Land, wo eines der Hauptheiligtümer der georgisch-orthodoxen Kirche liegt, das Kloster David Garedschi. Für die meisten Historiker weltweit ist das georgisches Territorium:  Das Klosterleben begann dort bereits im 6. Jh. nach Christi, als der Heilige David, einer der dreizehn assyrischen Mönche, nach Georgien kam, um später in der asketischen Halbwüste Garedschi auf dem Berg Udabno ein Kloster zu gründen, wo er sich den Gedanken an Gott und den Gebeten ungestört widmen konnte.

Bis heute gibt es auf dem Gebiet der Lawra zahlreiche kleine und größere Kirchen mit Fresken aus dem 9. – 14. Jahrhundert, die als Ikonenschule von Garedschi in die Geschichte der Malerei eingegangen sind.

In den 1920er Jahren schenkten die Bolschewiken den Teil des Landes, wo das Kloster liegt, dem sowjetischen Aserbaidschan. Doch damals hat das – wie auch in der Geschichte mit der Halbinsel Krim, die an die Ukraine ‚geschenkt‘ wurde – niemanden berührt, denn die inneren Grenzen innerhalb der Sowjetunion waren rein theoretisch. In der Sowjetzeit gab es auf dem Gebiet der Lawra kein Klosterleben. Hier befanden sich Militärübungsplätze.

Das Klosterleben wurde belebt Anfang der 1990er Jahre. Und in den letzten Jahrzehnten kocht der eingefrorene Grenz-Konflikt immer wieder hoch. So hat Aserbaidschan vor drei Jahren einen Teil des Lawra-Geländes, und zwar das Kloster Udabno, für sich beansprucht und den Zugang zur Udabno-Kirche für die Gläubigen versperrt, was Massenproteste der georgischen Bevölkerung auslöste. Danach hat Aserbaidschan den Zugang zum Kloster wieder geöffnet.

Meldungen aus dieser potentiellen Konfliktregion finden sich hin und wieder in der georgischen Presse: Mal werden Besucher wieder nicht in die Klosterhöhlen auf dem Berg gelassen, mal werden Touristen an dieser von niemandem anerkannten Grenze von der aserbaidschanischen Grenz-Polizei festgehalten.

Einige georgische Experten vermuten, dass es Kräfte gibt, die zwischen Georgien und Aserbaidschan einen Streit provozieren und diesen Konflikt in eine heiße Phase steuern wollen. Nach dieser These könnte dann die Türkei für das befreundete Aserbaidschan eintreten, was zu einem regionalen Konflikt führen würde. In diesem Fall hätte Russland eine gute Chancen, seinem ‚Glaubensbruder‘ Georgien zur Hilfe zu eilen.

Wie ernsthaft ist dieser Gebietsstreit zwischen den beiden Ländern in Wirklichkeit? Und was müsste geschehen, damit das in keinen neuen Krieg ausartet? Diese Fragen gaben mir Anlass, in das Kloster David Garedschi zu fahren und mich mit der Situation vor Ort vertraut zu machen.

Ein guter Freund, Zurab Kikodse, Theaterregisseur, leistete mir dabei Gesellschaft. Zurab oder einfach Zura ist ein Wandermeister mit langjähriger Erfahrung, der alle touristischen Stege des Landes in- und auswendig kennt, und darunter natürlich das Gelände dieses Klosters, mit dem er bereits seit Anfang der 1970er vertraut ist, als hier noch die Sowjetarmee Übungen abhielt. Auch heute ist für Aserbaidschan das Klostergelände nicht an sich interessant. Viel wichtiger ist die strategische Bedeutung der Lawra, die hoch auf dem Berg Garedschi liegt.

An einem Sonntag verlassen wir Tiflis sehr früh am Morgen, da wir zum Frühgottesdienst wollen, wonach ein Gespräch mit dem Klostervorsteher, Archimandrit Illarion, auf unserem Programm steht.

Beim Frühgottesdienst sind nicht viele Menschen anwesend. Und dennoch und sogar trotz der Tatsache, dass das Innenleben der zentralen Klosterkirche äußerst karg und nüchtern wirkt (nach zahlreichen Vandalismus-Aktionen der Sowjetzeit wurden die Fresken nicht restauriert), ist die Atmosphäre beim Gottesdienst innig und tiefgründig.

Nach dem Gottesdienst bittet mich Vater Illarion, auf ihn zehn Minuten zu warten. Um 10 Uhr zeichnet sich ab, es wird ein höllisch heißer Tag werden. Im Hof des Klostersspendet uns ein alter Maulbeerbaum großzügig Schatten; der Baum ist über und über mit dicken großen dunkelroten Beeren behängt. Zura möchte einige davon für mich pflücken, greift nach einer Beere, die vor Saft zerspringt und seine Hände und Arme rot färbt. „Es ist eine seltene Sorte Maulbeere“, sagt Zura. „Man nennt sie Bullenmaulbeere.“ Tatsächlich sieht Zura aus wie ein Bullen-Schlachter.

Danach sitze ich im Empfangsraum des Klostervorstehers, einem bescheidenen Zimmer, das mit ein paar Ikonen und Aquarellen behängt ist, und wir unterhalten uns über das Klosterleben, die Herausforderungen und die Ursachen dafür, warum in Georgien so viele Menschen innig an Gott glauben. Ganz offensichtlich bekommen die Glaubenden in den georgischen Kirchen das, was sie suchen, die Gottesgnade, sagt Vater Illarion, sonst würden sie ja nicht immer wieder dorthin zurückkehren.

Das Interessanteste für uns ist jedoch der Konflikt mit Aserbaidschan, mit dem die Mönche ja fast täglich konfrontiert werden.

Zu meiner Verwunderung stelle ich fest, dass es ganz einfach ist, mit dem Klostervorsteher, einem großen Mann in seinen Vierzigern, zu sprechen, was ich vorher nicht erwartet hätte. Vater Illarion entschuldigt sich mehrmals für sein schlechtes Russisch, das eingerostet sei, da er seit dem Anfang der 1990er kaum mehr auf Russisch redet.

Vater Illarion berichtet, dass inzwischen eine Kirche des Klosterkomplexes, Bertubani, vollständig jenseits der Grenze liege und dass Aserbaidschan ihnen noch ein Kloster, Tschitschituri, weggenommen habe und dass es ähnliche Pläne für ein drittes Kloster, Udabno, habe. Mit Demut, aber auch mit Entschlossenheit sagt er, so etwas gehöre sich nicht. Die Lösung dieser Fragen werde aus irgendeinem Grund hinausgeschoben. Die Gläubigen ließen sich aber die Hoffnung nicht nehmen, denn Georgien sei ohne diese Klöster einfach nicht vorstellbar. „Das ist unsere Geschichte, unsere Kultur, das sind unsere Werte“, sagt Vater Illarion.

Dann erzählt er, dass über dieses Gebiet schon immer Feinde gezogen seien, denn wer immer nach Georgien wollte, ob die Perser, die Araber oder die Mongolen, musste hier diese Grenze passieren. Dabei wurden viele Mönche ermordet, insbesondere Anfang des 17. Jahrhunderts beim Angriff des persischen Schahs Abbas II. Damals wurde dieses Kloster vollständig verheert, und zwar nicht nur die zentrale Lawra, sondern auch alle Klöster rings herum. Und alle 6 000 Mönche wurden zu Märtyrern. Nach diesem Überfall habe das Klosterleben praktisch aufgehört, da nur ein Kloster mit nur einigen Mönchen erhalten blieb.

Die Probleme mit Aserbaidschan begannen  im Jahre 2000, als das Klostergelände von der anderen Seite angeeignet wurde, ohne dass es irgendwelche Vereinbarungen gegeben hätte. „Meiner Meinung nach ist das ein Verbrechen, denn wer hat das Recht, die Grenzen ohne jegliche Verträge umzukrempeln?“ empört sich Illarion.

Dieser Konflikt ziehe sich auch deshalb so lange hin, da Georgien viele andere Probleme habe, erklärt der Klostervorsteher: „Wir haben ja noch einen Grenzstreit, den mit Russland. Und wir haben Verständnis dafür, dass diese Frage kompliziert ist. Doch wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass sich die Aserbaidschaner unser Territorium angeeignet haben. Das ist nicht zulässig. Und wir werden uns damit nicht abgeben“.

Vor drei Jahren sei die Lage mit Aserbaidschan wegen dieses Gebietsstreits sehr angespannt gewesen, sagt Illarion. Damals  haben die Aserbaidschaner an dieser vermeintlichen Grenze ihre Grenzwachen aufgestellt, die weder Pilger noch Touristen passieren ließen, die ins Kloster Udabno wollten. Man verlangte, wer immer das Klostergelände besuchen wolle, solle offiziell über Aserbaidschan einreisen. „Daraufhin haben wir alle Menschen, denen das Schicksal unseres Klosters nicht gleichgültig ist, versammelt, und wir sind hingegangen, um am Udabno-Kloster zusammen zu beten. Wir gaben Aserbaidschan zu verstehen, dass wir so etwas nicht zulassen würden. Und die Aserbaidschaner haben nachgegeben“.

Jetzt wird es den Mönchen wieder unmöglich gemacht,die Klosterkirchen jenseits der Grenze zu pflegen, was dem Klostervorsteher besonders zusetzt, denn „dort befinden sich einzigartige Fresken, die nach und nach zerstört werden“. Und die Mönche hätten heute überhaupt keine Informationen darüber, was sich in den besetzten Kirchen abspiele.

Ich frage den Priester danach, ob wir heute zum Kloster Udabno und zu den Höhlen problemlos hochgehen können. Und er warnt uns davor, dass es Probleme geben könnte: „Die Aserbaidschaner testen aus, wie wir reagieren.  Manchmal sagen sie, sie prüfen, wer dort oben herumläuft. Ich denke, sie wollen uns einfach daran gewöhnen, dass sie dort immer Wache halten, damit wir nicht mehr hochgehen. Doch das wird nie passieren“.

Das letzte Mal habe es vor ein paar Tagen Probleme gegeben, als eine Gruppe von holländischen Diplomaten angehalten wurde und die Aserbaidschaner nach den Papieren verlangten: „Sie sagten, es sei eine Kontrolle, wer sich dort oben herumtreibt. Wir haben entsprechend reagiert. Wenn Militärs eines anderen Staates unser Gebiet kontrollieren, ist das ein großes Problem“.

Zum Schluss frage ich danach, ob dieser Streit vielleicht so kompliziert sei, weil die Aserbaidschaner Moslems sind und die Georgier Christen, die deshalb keine gemeinsame Sprache finden können. „Nein, das glaube ich nicht“, beteuert Vater Illarion entschlossen. „Russland ist ja kein moslemisches Land, und das größte Problem haben wir ausgerechnet mit Russland. Ich denke, auch diese Frage ist keine religiöse sondern eine rein politische“.

 

Nach diesem Interview brechen Zura und ich auf, mit Wasservorräten gut ausgerüstet, zu einem Spaziergang in die Höhlen auf, die 125 m oberhalb des zentralen Klosters liegen. Der Aufstieg ist steil und anstrengend, da wir ihn an einem heißen Juli-Mittag unternehmen. Auf dem Weg dorthin frage ich mich, ob wir vielleicht Glück haben werden, mit den Grenzsoldaten von der einen oder von der anderen Seite über die Situation an dieser Grenze reden zu können.

In einer Viertelstunde erreichen wir das Kloster Udabno. Die kleine Klosterkirche ist zum Teil in einen Bergfelsen hineingemeißelt worden. Die Kirche ist mit einem Schloss abgeschlossen. Und gleich neben der Kirche, im sparsamen Schatten, erblicken wir drei georgische Grenzleute: einen Offizier und zwei Soldaten. Reporterglück!. Und ich freue mich insbesondere deshalb, weil die Militärs uns freundlich gesonnen und gesprächsbereit sind.

Wir begrüßen einander und ich interessiere mich, ob die aserbaidschanischen Grenzer hier auch anzutreffen sind. „Manchmal schon“, sagt der Offizier. „Bloß wenn wir hier Wache halten, kommen sie nicht. Denn das ist unser Gebiet. Aber sie wollen es uns wegnehmen und wissen nicht, wie das zu machen ist“.

Zura weist mich auf einen Steig hin, der von der aserbaidschanischen Seite hochführt: „Schau, diesen Pfad hat es früher nicht gegeben. Nun sieht man, dass sie ihn gut durchgestampft haben“. Doch der Grenzoffizier ist damit nicht einverstanden: „Früher erstreckte sich unser Gebiet bis hin zu jenem Häuschen“, und er zeigt ganz weit nach dem Süden.

„Stehen Sie hier jeden Tag?“ frage ich die Militärs. „Praktisch jeden Tag, doch manchmal haben wir anderswo Wache. Wenn wir nicht kommen, kommen die von dort. Moslems halt“, sagt der Offizier und schmunzelt. „Wir Georgier sind anders. Wir sind gastfreundlich und friedlich“.

„Kommt es vor, dass sie die Touristen hier nicht passieren lassen?“ frage ich. — „Aber natürlich kommt es vor, obwohl sie kein Recht darauf haben! Denn sie haben Maschinengewehre. Was kann ein Tourist gegen ein Maschinengewehr ausrichten? Aber wenn sie uns sehen, gehen sie. Hier in diesem Kloster sind orthodoxe Fresken. Als wir bereits Christen waren, waren sie noch wilde Heiden“.

„Dürfen wir in diese Kirche hinein?“ – „Nein, sie ist zu. Dort sind alte wertvolle Fresken. Vorgestern war hier eine Gruppe holländischer Diplomaten, und die Aserbaidschaner haben sie nicht durchgehen lassen. Also mussten wir entsprechende georgische Behörden alarmieren. Es waren einfache Soldaten, die die Frechheit hatten, nach den Ausweisen zu verlangten! Offiziere hätten vielleicht danach verlangen dürfen, doch die Soldaten? Dabei haben sie nicht einmal Russisch oder Englisch gekonnt! Sie kommunizieren oft nur mit Gesten!“

„Habt ihr irgendwelche Regeln oder Vorschriften, wie ihr euch hier zu benehmen habt?“ – „Unsere Arbeit ist der der Diplomaten gleich: Wir dürfen keine Konflikte initiieren“.

„Und was ist dort drüben unten, ca. 300 m von hier entfernt?“ – „Dort ist deren Grenzposten“. – „Ist er denn auch auf dem ‚nicht richtigen‘ Gebiet?“ – „Freilich! Dort sind auch georgische Klosterhöhlen“. – „Und was ist für die Aserbaidschaner so wichtig hier in dieser Gegend?“ – „Nichts Besonderes außer der Anhöhe. Strategisch ist sie sehr wichtig. Wir sind jetzt auf dem Berg, und das ist für sie wertvoll“.

Wir verabschieden uns von unseren Gesprächspartnern und gehen dann entlang des Bergrückens, um uns die Klosterhöhlen anzuschauen. Unten rechts erstreckt sich eine endlose Halbwüste, deren kleine Hügel wie die Wellen im Ozean wirken.  Und nur sehr weit in der Ferne sehen wir eine Siedlung.  Dort ist man schon in Aserbaidschan.

Während wir unter der brennenden Sonne immer weiter gehen, erinnert sich Zura an die Zeiten von damals. „Als ich hier gegangen bin, waren diese Grenzbuben noch gar nicht geboren, denn 1971 waren sie bestimmt noch nicht auf der Welt. Hier, wo wir gehen, ist eine alte sowjetische Innengrenze. Damals aber gab es keine festen Grenzmarkierungen. Man wusste es so ungefähr: Dieser Berg ist unser, jener Berg ist euer. Siehst Du den Berg dort drüben?“ sagt Zura und zeigt in Richtung Süden. „Dort ist nämlich noch ein Kloster, ein sehr großes. Aber dort dürfen wir nicht mehr hin“.

Davit Garedschi ist unter anderem dafür bekannt, dass es hier viele Schlangen gibt, insbesondere im Sommer. Deshalb geht Zura vor und hält einen langen Stock vor sich hin. Einmal stolpert er beinahe über etwas, was an eine Schlange erinnert. Doch dann stellen wir fest, es ist bloß ein alter Schnursenkel. „In der brennenden Hitze kriechen die Schlangen nicht heraus“, sagt Zura entwarnend. „Sie kommen aus ihren Höhlen nur sehr früh oder spät abends“.

Dann erzählt er mir mehr von dem alten sowjetischen Truppenübungsplatz: „Ich habe sogar Fotos von hier mit den alten Panzerattrappen, die als Zielscheiben benutzt wurden. Und man sieht auch verschiedene abgeschossene Patronenhülsen, alte Militärkleidung und vieles mehr. Was man hier nicht alles sehen konnte! Die Flieger sind hier herzumgeflogen und sie haben Bomben abgeworfen, weiß der Teufel, was hier los war!“

Wir gehen weiter. Und wir fühlen uns so, als würde uns die Hitze bald zur Asche machen. Überall singen Vögel und Zikaden. Zura bleibt für eine Weile stehen, um mich auf einen bestimmten Vogel aufmerksam zu machen: „Hörst du es? Das ist ein Rebhuhn. Wir haben sie früher hier gejagt. Außerdem gibt es Hasen und natürlich auch Wölfe“.

Auf unserem Weg schauen wir uns die Klosterhöhlen an. Auf den Wänden der Höhlen sieht man verschiedene Inschriften, darunter auch ganz alte. Zura behauptet, man kann hier nicht nur die alte georgische, sondern auch die persische und sogar die mongolische Schrift erkennen!

Eine der Inschriften kommentiert mein Wegbegleiter ausführlich. Zuerst liest er auf Georgisch vor, dann übersetzt er für mich: „„Mönch Namens Kalistrat Tschitschwa. Gott, gib dem Mönchen Kalistrat Tschitschwa aus Megrelien Deinen Segen. Und dann das Jahr: 1883“. Weißt du, damals war ich noch ein kleiner Bub, und ich habe diesem Typen gesagt: „Tschitschwa, was tuest du hier?“

Mein Freund Zura ist ein großer Spaßvogel. Jedes dritte Wort, das er von sich gibt, ist ein Witz. Ein Künstler und Theatermensch ist er, der beste Reisebegleiter schlechthin!

Heute ist Sonntag, und es gibt oben trotz der Hitze viele Touristen, die meisten aus dem Ausland. Sie gehen entweder in Pärchen oder in größeren Gruppen. Um uns herum hören wir Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und Italienisch.

Nun stehen wir vor einer Höhle, wo die Fresken gut erhalten sind. Dezente Farben, zart und beeindruckend. „Schau, jemand hat ihnen die Gesichter extra ausradiert“, sagt Zura. Tatsächlich haben zu unsrem Bedauern die Muttergottes und die um sie herum stehenden Heiligen keine Gesichter mehr.

Auf einmal sehen wir, dass hinter den ausgetrockneten Distel-Büschen Menschen in einer ungewöhnlich aussehenden Uniform und mit breitkrempigen Sonnen-Hüten herauskommen. „Schau mal an, diese Menschen sehen aus wie aus einer anderen Oper“, wundert sich Zura. Und als wir diese Gestalten aus der Nähe betrachten, verstehen wir, dass es sich um aserbaidschanische Grenzleute handelt.

„Was für ein Tag! Lauter glückliche Zufälle!“ denke ich. „Die Gedanken materialisieren sich!“

„Seid ihr aus Georgien?“, fragen uns die aserbaidschanischen Militärs. – „Jawohl, wir sind Georgier“, antwortet Zura auch für mich. – „Dann ist es gut“, erwidern die Grenzleute, und sie wollen weiter gehen. Doch ich lasse nicht los: „Und was wäre nicht gut?“ frage ich. „Wer darf hier nicht herumgehen?“ – „Alle dürfen das, denn es ist ein touristisches Gebiet“, erläutern die Grenzleute. – „Warum fragen Sie dann überhaupt?“ frage ich. „Nach wem suchen Sie?“ – „Wir suchen niemanden. Es ist unsere Arbeit“. – „Als was arbeiten Sie denn?“ frage ich. – „Wir sind Soldaten“. – „Grenzleute?“ – „Genau“. – „Sind wir etwa auf dem aserbaidschanischen Gebiet?“  lasse ich nicht locker. – „Nein, aber das hier ist die Grenze“. – „Ist die Grenze ganz genau hier, also darf man doch hier nicht gehen, oder?“ – „Warum nicht? Das ist ein Ort für die Touristen“, antwortet einer der Grenzleute und schöpft auf einmal Verdacht: „Seid ihr wirklich aus Georgien?“ – „Ja, sind wir“, antwortet Zura erneut. – „Schaut, dort drüben gehen schon eure Grenzer“, sagt der aserbaidschanische Soldat und zeigt auf seine georgischen Kollegen, die sich uns nähern.

Wir begrüßen unsere ‚alten Bekannten‘ wieder. Dann frage ich alle zusammen: „Habt ihr euch noch nicht bekannt gemacht? Wisst ihr, wie alle heißen?“ – „Nein wissen wir nicht“, sagt einer der Aserbaidschaner im trockenen Ton.

Ich beschließe, deren Bekanntschaft zu initiieren, und frage zuerst den freundlichen georgischen Offizier nach seinem Namen und woher er komme. Während die beiden georgischen Soldaten schweigen, sagt ihr Chef: „Ich heiße Guga* (Anm.: Name ist verändert)“. Und ich komme aus Kachetien. Dort haben wir einen recht anständigen Wein“. – „Haben Sie vielleicht etwas mit?“ frage ich zum Scherz und alle lachen. – „Bist du verrückt!“ sagt Zura. „ Wein bei dieser Hitze?“

Die Aserbaidschaner sind auffallend weniger kontaktfreudig. Man merkt es, dass sie noch nicht wissen, wie sie mit uns umgehen sollen. „Also dürfen Sie mit Ihren Kollegen aus Georgien gar nicht sprechen“, mutmaße ich. Daraufhin Guga, der georgische Offizier:  „Aber klar dürfen wir das, aber…“ – „Wir sollten das nicht“, antwortet der aserbaidschanische Soldat vorsichtig.

Doch Guga, der Sprecher seiner kleinen Drei-Mann-Truppe, sieht sehr wohl danach aus, als hätte er Lust, seine Kollegen von jenseits der Grenze näher kennenzulernen. Deshalb sagt er im versöhnenden Ton: „Manchmal haben wir, Georgier und Aserbaidschaner, sogar gemeinsame Truppenübungen. Und der Stab der aserbaidschanischen Armee hat sogar ein Büro in Tiflis“.

Dann wendet er sich an einen der Aserbaidschaner, der etwas weniger abweisend wirkt als sein Kollege: „Wie heißt du?“ – „Samir“.- „Du sprichst sehr gut Russisch“. – „Klar, ich komme ja aus Baku“, und dann fügt er plötzlich hinzu: „Und außerdem ist zwischen uns, den Aserbaidschanern und den Georgiern, nicht alles so schlecht, wie es aussehen mag“.

„Wir Kaukasier sind alle freundliche Menschen“, resümiert der georgische Offizier. „Wie lange dauert bei Euch der Armeedienst?“ – „Drei Jahre“. – „Und wir in Georgien haben Vertragsdienst.  Alle, die ihren Vertrag abgedient haben, ob im Irak oder in Afghanistan, werden an solche Orte wie der hier geschickt“, fügt Guga hinzu und merkt an, dass seine Soldaten im Gegensatz zu ihm natürlich noch ‚Grünschnäbel“ seien und an keinem der Brennpunkte gewesen sind. „Und wo sind denn Sie selber gewesen?“ frage ich mit Neugierde. – „Mein Gott, ich bin seit 20 Jahren dabei!“ sagt Guga stolz. „Wo ich nicht überall gewesen bin! Aber hier, an diesem Ort, ist es doch ruhig, nur ein wenig umstritten. Und solange man sich nicht über die Grenze einigt, stehen wir an beiden Seiten der Grenze“.

„Vor drei Jahren war es hier unruhig, stimmt’s?“ frage ich. – „Das stimmt. So etwas kommt schon mal vor. Und es hängt davon ab, welche Regierung an die Macht kommt. Doch wir Grenzleute an beiden Seiten der Grenze sind wunderbare Kerle. Sogar in der Sowjetunion hat es gegolten: Wer an der Grenze Armeedienst hatte, der war ein ganzer Kerl. Genauso ist das heute auch“.

Während wir miteinander sprechen, dolmetscht der aserbaidschanische Soldat für seinen Chef, den Fähnrich, den Inhalt unserer Unterhaltung.. Der Fähnrich hört aufmerksam zu, fügt manchmal etwas hinzu, doch man sieht es, dass er sich ohne Kenntnis der Sprache unbeholfen fühlt. Aber es sei nicht zu machen: Der Fähnrich komme nicht aus Baku, und Russisch habe er nicht gelernt, sagt Samir.

Mein Freund Zura hat auch etwas, woran er sich erinnern kann: „In meiner Jugend hatte ich Armeedienst in Aserbaidschan absolvieren müssen. Dort bekamen wir Soldaten einen Samowar Tee gratis. Und jener Tee, der schmeckte!“ sagt Zura, schließt die Augen und wirkt gleich leicht entrückt. „Wir tranken ihn mit Würfelzucker, den wir zwischen den Zähnen hielten – ein Genuss!“

Und Guga fügt hinzu: „Das stimmt, den Tee können sie dort gut zubereiten. Wir haben den Wein, sie den Tee. Sie haben Kebabs und wir dafür Chinkali (Anm.: georgische Maultaschen) und Mzwadi (Anm.: georgisch für Schaschlyk)“.

„Doch solche Berge wie in Georgien haben sie dort in Aserbaidschan wohl nicht?“ frage ich. – „Wieso denn nicht? Natürlich haben sie Berge!“ sagt Guga mit leichter Empörung über meine Unkenntnis. „Doch jene Berge, in Nagorny Karabach, wurden ihnen weggenommen, wie man uns Abchasien weggenommen hat!“

„Inzwischen wird es in Karabach wieder unruhig“, werfe ich ein.

„Das ist wahr. Gestern hat man im Fernsehen gezeigt: Sieben Armenier sind ermordet worden und ein aserbaidschanischer Soldat“, sagt der georgische Offizier. „Es ist wieder Russland, das seine Spielchen betreibt. Nur Russland kann solche ‚geschmacksvollen‘ Piroggen backen. Nur Russland kann solche Minen mit langsamer Wirkung verstecken. Russland sorgt vor, und wir schießen dann aufeinander“, sagt Guga und seufzt.

„Möge Gott auch euch helfen, eure Gebiete zurück zu gewinnen!“ sagt Samir unerwartet.

Daraufhin Guga: „Ich habe viele aserbaidschanische Freunde, manchmal machen wir gemeinsam Truppenübungen in Tiflis. Alles wird gut bei uns. Man hat uns dies weggenommen und ihnen jenes. Wir haben viel verloren, und sie auch“.

Dann wendet er sich an Samir in einem schärferen Ton: „Gestern haben eure Leute eine Diplomatendelegation hier aufgehalten, ihre Papiere geprüft, sie nicht passieren lassen wollen. Man hat euch dann aus dem Stab in Tiflis angerufen. Deshalb stehen wir heute wieder hier“.

Samir dolmetscht alles für seinen Chef, der schweigend und aufmerksam zuhört.

„Auf diese Weise kann man leicht sogar einen diplomatischen Skandal verursachen“, warne ich zum Scherz. Doch der georgische Offizier beruhigt mich: „Natürlich ist das möglich. Doch wir kommen ja so gut miteinander klar, wenn wir Truppenübungen haben.  Und meine Freunde in Baku decken für uns, dass sich die Tische biegen, wenn wir sie besuchen! Sie sind ganz anständige Menschen, diese Aserbaidschaner. Schade bloß, dass sie so wenig Wein trinken!“

„Haben unsere Leute vorgestern jemanden hier nicht passieren lassen?“ fragt Samir nach, nachdem er mit seinem Chef etwas abgesprochen hat. – „Das stimmt. Es waren holländische Diplomaten“. – „Ihr wisst vielleicht, wen wir hier normalerweise nicht passieren lassen?“ fragt Samir nach. Daraufhin der georgische Offizier: „Alle, die aussehen wie Armenier?“

Samir erwidert: „Das ist wahr. Manchmal kommen sie hier hoch und machen Fotos“. Der georgische Offizier daraufhin verständnisvoll: „Ich weiß, ich weiß… Wenn ihr so etwas zulasst, werdet ihr große Schwierigkeiten ernten!“

Eine Weile schweigen wir alle nachdenklich.

„Interessant, wie können sie erfahren, dass ‚die verdächtigen Typen‘ tatsächlich Armenier sind?“ denke ich nach, aber schaffe es nicht, diese Frage zu stellen, denn Samir wiederholt seinen Wunsch erneut: „Gott möge euch helfen, eure Länder zurück zu gewinnen“. Daraufhin sagt Guga mit Schmunzeln: „Danke schön. Aber ihr versteht es natürlich, dass dies ohne einen Krieg nicht passieren wird“. Daraufhin Samir: „Dann möge Herrgott Putin bald zu sich nehmen“. Guga nickt zustimmend: „Richtig! Solange Putin an der Macht ist, werden wir alle keinen Frieden haben. Jetzt bombardiert er die Ukraine. Und die Ukrainer haben den Krieg. Slawen kämpfen gegen Slawen! Ist das denn denkbar? Ein brudermordender Krieg! Und wir in Georgien haben dafür eine kleine Verschnaufpause“. Samir seufzt und bestätigt: „Jawohl. Ich habt eine kleine Verschnaufpause“. Guga führt aus: „Die Ukrainer haben bis vor kurzem nicht gewusst, wie so etwas gemacht wird. Doch das wird ganz einfach gemacht: Zuerst schießen die maskierten Russen auf uns, wir erwidern mit Maschinengewehren. Das nennt man Provokation. Und dann kommt der Krieg. Der letzte Weltkrieg wurde genauso angefangen“. Samir: „Das stimmt. Wie Hitler 1941“.

Guga denkt nach und fragt: „Und wie soll Georgien gegen Russland bloß kämpfen? Auch wenn ganz Europa seine Panzer zusammenführt, wird Russland trotzdem die Oberhand haben über Europa und über Asien zusammen. Wenn die Russen auf einmal losschießen, wird ganz Europa in Kanonenlärm versinken“. Und auf einmal wird er philosophisch: „Und dennoch: wie kann ich sagen, dass ich die Russen nicht mag? Ich habe Puschkin gelesen, ich habe „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi gelesen. Wir sind doch beide orthodoxe Völker. Ich habe viele Freunde in Russland, aber wir sehen uns nicht mehr, wir sprechen nur am Telefon“. Dann sagt er zu Samir: „Du bist ein schlauer Bursche! Und es ist gut, dass du Russisch kannst! Hast du „Krieg und Frieden“ auch gelesen? – „Nein, habe ich nicht“. – „Schade“.

Nachdenklich schweigen wir alle wieder.

Die Mittagsonne brennt. Die Hitze wird drückend. Wir alle haben Durst. Der georgische Offizier fragt seine aserbaidschanischen Kollegen, ob sie vielleicht Wasser für ihn hätten, denn sie haben ihres am Stützpunkt gelassen. „Ihr wollt Wasser?“ fragt Samir. „Bitte schön! Doch unser Wasser ist zu warm“, und er reicht seine Wasserflasche an Guga weiter. Dieser nimmt dankbar an und sagt: „Warm? Das macht nichts! Dann wird es wie Tee für uns. Und ihr, tretet einfach zu uns rüber in den Schatten. Die ganze Zeit in der Sonne zu stehen ist ja Selbstmord“. Samir und sein Chef bewegen sich in den Schatten und schauen sich die Klosterhöhle, an der wir stehen, genauer an. „Es ist hier bei euch wie in einer Dreizimmerwohnung!“

Auf einmal hat Zura eine geniale Idee: „Lasst uns eine Friedensaktion machen!“ Und er nimmt seine Wasserflasche heraus, hebt sie hoch und sagt triumphierend: „Das Wasser aus Tiflis wird nun nach Aserbaidschan gehen“. Danach gießt er sein Wasser in die Flasche von Samir um. Doch dieser scheint beunruhigt: „Lasst auch etwas Wasser für euch übrig“. – „Das macht nichts, wir werden uns im Kloster neues Wasser holen“, beruhige ich Samir.

Nach diesem freundschaftlichen Austausch kommen die Grenzleute einander noch ein wenig näher. Sie tasten gegenseitig die Uniformen ab und interessieren sich für den Monatsgehalt der professionellen Militärs. Und so erfahren wir, dass die Aserbaidschaner mehr verdienen als ihre georgischen Kollegen: 1500 US-Dollar in Aserbaidschan gegen 800 US-Dollar in Georgien, wobei das Leben in Aserbaidschan um einiges teurer sei als in Georgien.

Samir berichtet uns, nach seinem obligatorischen Armeedienst werde er in die professionelle Armeelaufbahn einsteigen. Dabei bewegt ihn nicht nur die finanzielle Seite, sondern auch ‚ein gewisser Patriotismus‘ und der Wunsch, für sein Land zu kämpfen und Karabach zurück zu erobern.

Die Aserbaidschaner und die Georgier sind sich einig: ihre Länder müssen dringend in die Nato und in die EU, doch es sei für sie gefährlich, sowohl mit Amerika als auch mit Russland zu enge Freundschaften zu unterhalten, denn bei diesen Ländern handele es sich um Raubtiere, bloß der eine Bär sei weiß, der andere schwarz, sagt Guga.

In unser Gespräch vertieft, verbringen wir über eine Stunde im Schatten einer georgischen Höhlenklosterzelle mit dem Blick auf Aserbaidschan. Und mir kommt das Ganze ziemlich unwirklich vor.

Langsam verabschieden wir uns von unseren Gesprächspartnern und wir setzen unsere Führung fort. Unten am Parkplatz erblicken wir einen bunt bemalten VW-Käfer, von dem aus ein junger Mann an die Klosterbesucher  frischgebrühten, auch kalten Kaffee anbietet. Eine für georgische Verhältnisse recht ungewöhnliche Dienstleistung.

„Es eine Sünde, diesen Kaffee jetzt nicht zu trinken“, proklamiere ich. „Wir sollten darauf trinken, dass der Unternehmensgeist bis nach Davit Garedschi vorgedrungen ist!“ – „Ich komme nicht aus Georgien“, korrigiert mich der Kaffee-Verkäufer. „ Ich komme aus der Ostukraine, aus Donezk. Ich bin Flüchtling“. – „Na so etwas!“ rufe ich aus. „Gibt es denn so etwas?“  — „Jawohl, das gibt es. Ich bin sogar ein doppelter Flüchtling. Denn ich bin ein gebürtiger Armenier aus Tiflis. 1993 ist unsere Familie vor dem Bürgerkrieg in Georgien in die Ukraine geflüchtet. Und nun sind wir wieder vorm Krieg geflohen, dem in der Ukraine. In Donezk ließen wir alles zurück und wir kamen heim mit nichts“.

Und so verbringen wir am Parkplatz des Klosters, im kargen Schatten eines der wenigen Bäume, fast eine Stunde beim Gespräch mit unserem neuen Bekannten, der uns über die Einzelheiten des Krieges in der Ostukraine und die vielen gebrochenen Leben seiner Freunde und Verwandten berichtet.

Und in der Zwischenzeit setzen oberhalb des Klosters unsere bekannten Grenzleute mit ihren Kalaschnikows ihren Armeedienst fort, jene netten Kerle aus Georgien und Aserbaidschan, die diese Kalaschnikows hoffentlich nie mehr zu verwenden brauchen.

David Garedschi- Tiflis, 27. Juli 2015

Читайте также: