Tatjana Montik aus Tiflis14. Mai 2013, 05:30
Von den starken kulturellen Bindungen Georgiens an Europa zeugen unter anderem viele Jugendstilbauten in der Metropole Tiflis und anderen Städten
Tiflis ist bekannt für seine uralten Kirchen, die bis ins 4. Jahrhundert zurückdatieren, seine von der Kunst des Islam geprägten Häuser, das orientalische Erscheinungsbild der Schwefelthermen und die kunstvoll geschnitzten Holzbalkone. Doch kaum jemand würde die Stadt mit Jugendstilbauten in Verbindung bringen.
Dabei prägt die Architektur des Fin de Siècle das Gesicht mehrerer Altstadtviertel: Sololaki, Vere, Mtatsminda, Awlabari und Tschugureti. Dort werden mehr als 250 Gebäude dem Jugendstil oder seinen Mischformen zugeordnet. Zu den berühmtesten Jugendstilbauten von Tiflis zählen das Zentralbankgebäude, das Mardschanischwili-Theater, die TBC-Bank-Zentrale, die Zentralbibliothek und das Apollo-Kino. Darüber hinaus gibt es weniger bekannte, gleichwohl prachtvolle Objekte wie zahlreiche Miets- und Herrenhäuser, eine Tabakfabrik und einen Friedhof.
Maia Mania ist Professorin für Architekturgeschichte an der Tiflisser Kunstakademie. Die Akademie befindet sich in der Gribojedow-Straße in einem 1856 von einem armenischen Kaufmann erbauten Haus, das 1902 vom Jugendstil-Architekten Simon Kldiaschwili umgebaut wurde.
Der Jugendstil sei um die Jahrhundertwende auch im Kaukasus hochaktuell gewesen, bezeugt Maia Mania. Gebäude im Jugendstil gibt es nicht nur in Tiflis, sondern auch in anderen georgischen Städten, wie Kutaisi, Sochumi, Poti, Kobuleti, Duscheti und Batumi. Diese Stilrichtung gelangte unter anderem über Russland nach Georgien, doch teilweise auch direkt auf dem Seeweg über den Schwarzmeerhafen Batumi. Die georgische Oberschicht hatte damals viele Verbindungen nach Europa und brachte die neuesten Kunstströmungen mit nach Hause.
Im Gegensatz zu Baku, heute Hauptstadt des benachbarten Aserbaidschan, wirkten in Georgien überwiegend einheimische Architekten: Michail Ochadschanow, Lazar Sarkisian, Simon Kldiaschwili, Pawel Zurabian, Grigol Kurdiani. Eines der imposantesten Jugendstil-Gebäude in Tiflis ist das Wohnhaus des Cognac-Magnaten David Saradschischwili in der Matschabeli-Straße 13. Seit 1920 beherbergt es das «Haus des Schriftstellers».
Guga Koketischwili, ein Tiflisser Künstler, Designer und Jugendstil-Liebhaber, ist gerade dabei, das Saradschischwili-Haus zu restaurieren. Er hatte Glück. Im Dachgeschoss des Hauses wurden viele Originalmöbel und alte Fotos gefunden. «Davon, dass wir Georgier schon damals sehr nahe an Europa waren, zeugt etwa ein kleines Detail: Bei der Restaurierung haben wir auf der Gartenterrasse schöne Kacheln von Villeroy & Boch gefunden, von denen uns einige fehlten. Wir wandten uns an die Vertretung von Villeroy & Boch in Tiflis. Dabei erfuhren wir, dass es exakt solche Kacheln auf der Titanic gegeben haben soll.»
2006 trat Tiflis dem europäischen Jugendstilnetzwerk bei, was auch das Verdienst der Architektin Nestan Tataraschwili ist. Sie hat auch eine Touristenroute für Jugendstilliebhaber entwickelt und einen Reiseführer zusammengestellt. Ihre Diplomarbeit hatte sie 1983, ermuntert von ihrem Professor, Simon Kintsuraschwili, dem Jugendstil gewidmet. Damals, in den letzten Jahren der Sowjetunion, war das fast undenkbar, da die Kunstrichtung unter den Kommunisten als dekadent galt. Jugendstilbauten wurden höchstens oberflächlich renoviert.
Auch deshalb sind laut Maia Mania heute viele Tiflisser Jugendstilhäuser baufällig. Der andere Grund sei der unsensible Umgang mit der historischen Bausubstanz insgesamt, sagt Manfred Nawroth von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Die im Auftrag von Präsident Michail Saakaschwili in einer Nacht-und-Nebel-Aktion erfolgte Restaurierung des imposanten Davit-Aghmaschenebeli-Prospektes im historischen deutschen Viertel steht als Paradebeispiel dafür, wie historische Bausubstanz beschädigt wird.
«Politische Entscheidungsträger und Investoren verfolgen eigene Interessen, die andere sind, als die Erhaltung der Bausubstanz. Ein Neubau oder ein scheinhistorisches Fake tun es da auch. Tiflis droht sein historisches Gesicht zu verlieren», sagt Nawroth. Daher müssten die Mahnungen von Fachleuten stärkeres Gehör finden, um die Stadt im Wahn der schnellen Veränderung nicht vollständig zu zerstören. (Tatjana Montik, Crossover, DER STANDARD, 14.5.2013)