Auf Kirchtürmen Nach 900 Tagen ist vor 65 Jahren die Belagerung Leningrads beendet worden. Die Erinnerungen Michail Bobrows daran sind noch frisch. Tatjana Montik
Für Michael Bobrowist es, als wäre es gestern passiert. Leid, Entbehrungen und Tod gehörten damals zum Alltag. 900 Tage lang belagerten die Deutschen Leningrad, schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen starben dabei, der Grossteil an Kälte und Hunger.
Dem Feind ausgesetzt
Doch nicht nur die furchtbare Hungersnot des ersten Kriegswinters sind Bobrow im Gedächtnis geblieben.Während der Blockade versuchte der Bergsteiger die historischen Gebäude von Leningrad zu schützen. «Wir haben damals eine sagenhafte Stärke und Geschlossenheit gefühlt», erinnert sich der Kriegsveteran. «Alle Menschen fühlten sichwie eine grosse einträchtige Familie.»
Zusammen mit Freunden vom Bergsteigerverein kletterten sie auf die Häuser, um sie zu verhüllen. Denn die Bauten mit ihren Spitztürmen und die Kirchen mit den goldenen Kuppeln bildeten für die deutschen Kampfflieger und die Artillerie, die Leningrad gleich vom Stadtrand beschossen hat, perfekte Ziele: Sie waren gut zu erkennen. Zunächst habe unter den Denkmalschützern in Leningrad Panik geherrscht, erzählt Irina Grintschenko, führende wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums für die Geschichte von Sankt Petersburg. Es habe sogar die Idee gegeben, die wichtigsten Kulturdenkmäler eigenhändig zu zerlegen. Das hätte allerdings ihre Zerstörung bedeutet. Doch im Komitee für den Denkmalschutz arbeitete damals die Hobby-Bergkletterin Natalja Ustwolskaja. Ihre Idee wares, die historischen Bautenzutarnenund dafür Bergsteigertechnik zu verwenden.
Schätze aus den Palästen
Natalja rief ihre Freunde aus dem Bergsteigerverein zusammen – Alja Prigoschewa, Olga Firsowa, Alois Sembo und den damals 18jährigen Michail Bobrow. «Zuerstnahmen wir unsdie Isaak-Kathedrale vor, denn diemarkante Kuppel dieser Kirche war für den Feind am besten zu sehen», erzählt Michail Bobrow. Ausserdem befanden sich dort die Schätze, die aus den umliegenden Zarenpalästen evakuiert worden waren. Die Bergsteiger kletterten auf die Kuppel der Kathedrale.Während sie sich an den Seilen festhielten, malten sie die Kuppel in Tarnfarben an. Diese Übermaltechnik konnte allerdings für die Kuppeln vieler anderer Kirchen und Türme der Stadt nicht ein gesetzt werden.Siewaren vergoldet, und das Gold ware beim Abwaschen zerstört worden. Deshalb wurden diese Kuppeln verhüllt.
Mit demBallon nach oben
Die Arbeit am Admiralsgebäude mit dem spitzen Turm sei besonders schwierig gewesen, erinnert sich Bobrow. Man wollte den wertvollen Kunstbau nicht durch die Hakender Bergsteiger beschädigen. Deshalb griffen sie auf Ballons zurück,mit denen sie den eine halbe Tonne wiegenden und wie einen Theatervorhang genähten Überzug nach oben beförderten und an der Spitze des Gebäudes befestigten. Diese Arbeiten hatten einenMonat gedauert.
Jeder denkt ans Essen
In Hungersnot und Eiseskälte eine derart schwere physische Arbeit zu verrichten, liess die Kräfte der Bergsteiger mehr und mehr schwinden. «Natürlich dachte damals jeder nur ans Essen und daran, wo er sich aufwärmen könnte», erzählt Bobrow. «Die Arbeit war wohl das einzige, womit wirunsvondiesen Gedanken haben ablenken können.» Die schwindenden Kräfte und die Eiseskälte waren jedoch nicht die einzigen Gefahren, die auf die jungen Enthusiasten lauerten.
Die deutschen Flieger sahen, wie ihre Hauptzielevom Stadtpanorama verschwanden, und sie Eröffneten auf die Bergsteiger eine Jagd aus der Luft. «An manchen Tagen mussten wir unter starkem Beschuss von oben arbeiten», erinnert sich Bobrow und erzählt die Geschichte einer Kollegin: Sie sei einmal in durch die Kugelnzerfetzter Kleidung von einem Gebäude heruntergestiegen. Sie erzählte, sie sei von allen Seiten beschossen worden. «Gott sei dank wurde sie nicht getroffen», sagt Bobrow.