Mit «Kraft durch Freude» wollte das NS-Regime den Deutschen und der Welt ein Arbeiterparadies vorgaukeln. Davon zeugt die Ferienanlage Prora — als Mahnmal und Propagandaobjekt.
Der Standard, CROSSOVER
12. Oktober 2009
https://www.derstandard.at/story/1254311216170/crossover-der-lebendige-mythos-vom-ns-paradies
Foto: Was als Badeort der Volksgenossen geplant war
Prora — Die Ostsee-Insel Rügen gilt als Urlaubsparadies. Auch Geschichtsinteressierte kommen auf ihre Kosten. Die Insel war einmal schwedisch, und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde ihre östliche Küste, insbesondere das Ostseebad Binz, zur beliebten Sommerfrische für den deutschen Adel, angeführt von Kaiser Friedrich Wilhelm I.
Fotos: Urlaubsparadies Rügen
Doch es gibt auf Rügen ein Relikt ganz anderer Art, das aus Deutschlands jüngerer Vergangenheit stammt und bereits zwei Diktaturen, das Dritte Reich und die DDR, überlebt hat: Es ist das KdF-Bad Prora, das nach wie vor von Mythen umhüllt ist und dessen weiteres Schicksal in der Luft hängt.
Prora war ein Vorzeigeprojekt der NS-Führung, der Traum vom Urlaubsparadies für die sogenannten Volksgenossen. Die sich über fünf Kilometer erstreckende Anlage wurde Mitte der 1930er-Jahre von der Organisation «Kraft durch Freude», einer Unterabteilung der NS-Pseudogewerkschaft Deutsche Arbeiterfront, konzipiert. Hier hätte ein Seebad der Superlative entstehen sollen, wo 20.000 Volksgenossen gleichzeitig Urlaub machen sollten.
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden die Arbeiten eingestellt. Im Krieg befanden sich hier ein Lazarett und ein Flüchtlingsheim für ausgebombte Hamburger. In der Nachkriegszeit sei ein Teil der KdF-Blocks durch die Sowjetarmee gesprengt worden, während die Volksarmee der DDR, die um Prora ein militärisches Sperrgebiet errichtet habe, dort Sprengversuche und Häuserkampfübungen durchgeführt habe, sagt Jürgen Rostock, Leiter des Projekts Prora von der Stiftung Neue Kultur.
Bis heute sind die alten Prora-Mythen lebendig, die unter anderem in vielen Rügen-Reiseführern vorkommen. Laut einem davon sei der Mammutbau so stabil, dass ihn nicht einmal die Sowjetarmee zu sprengen vermochte. Doch das stimme überhaupt nicht, widerlegt Rostock. «Was gesprengt werden sollte, ist gesprengt worden. Zum Beispiel der allersüdlichste Block — der ist ganz weg, genauso wie die zwei Blocks im Norden.»
Wie entstehen dann solche Legenden? Eine der Antworten: Prora lässt sich bis heute zur Verherrlichung des NS-Regimes benutzen. Laut Rostock habe das KdF-Bad von Anfang an Propagandazwecken gedient: Die Volksgenossen zu entpolitisieren und durch Zerstreuung fürs Regime zu gewinnen.
Heute führt Heike Tagsold, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Dokumentationszentrum Prora, Besuchergruppen durch die Ausstellung «MACHTUrlaub!», die seit 2005 in einem der KdF-Blocks präsentiert wird. Tagsold ist überzeugt, der Mythos vom NS-Urlaubsparadies gehöre immer aufs Neue entzaubert, denn das KdF-Bad Prora, zusammen mit den KdF-Schiffsreisen, habe eine der wenig schrecklichen Seiten des NS-Regimes gebildet.
Und diese Aspekte des NS-Regimes — neben dem Projekt Autobahn und Volkswagen — sind für Neonazis ein perfektes Propaganda-Argument. «Es gibt wieder neonazistische Internetseiten, wo behauptet wird, den deutschen Sozialstaat der Nachkriegszeit habe niemand anderer als der Führer begründet», sagt Tagsold. Und Projekte wie Prora werden dazu gern als Beispiel angeführt.
Indessen hängt die Zukunft des Dokumentationszentrums, das jährlich 80.000 Besucher, darunter viele Schulklassen, empfängt, weiter in der Luft. Man bekomme zwangsläufig den Eindruck, dass sich das Ganze im Sinne der KdF weiterentwickle, scherzt Rostock. Das Dokumentationszentrum ist als Mieter von der Gunst eines der privaten Investoren abhängig, an die die Anlage in den 1990er-Jahren verkauft wurde.
Staatliches Desinteresse
Außer ein paar Versprechungen einiger Minister hat das Projekt Prora von der Stiftung Neue Kultur bisher an staatlicher Hilfe wenig erfahren. Rostock: «Es war ein Panikverkauf. Und jetzt macht jeder Investor mit jedem Gebäude, was ihm einfällt. Dabei wäre hier unter anderem der Denkmalschutz gefragt, weil die Investoren bereits große Verstümmelungen an Gebäuden vorgenommen haben.»
Wer heute Prora besucht, wird inmitten einer idyllischen Rügen-Landschaft mit einem kasernenartigen, heruntergekommenen Bau konfrontiert. 1937 erhielt das KdF-Projekt bei der Internationalen Ausstellung in Paris sogar einen Grand Prix. Dagegen scheint sich das demokratische Deutschland für die symbolische Bedeutung der Anlage, die sie als Denkmal einer totalitären und monumentalistischen Ideologie prädestiniert, nicht zu interessieren.
(Tatjana Montik/DER STANDARD, Printausgabe, 13.10.2009)