Adscharien. Ein magisches Puzzle

Tatiana Montik
Автор
Tatjana Montik журналист
Дата последнего обновления:
4 июля 2023

 

Lange Zeit habe ich Adscharien in der Schatulle meiner potentiellen Entdeckungen aufbewahrt, für deren Genuss man besonders viel Zeit aufbringen sollte. Und als sich endlich diese Zeit fand, wurde ich mit zahlreichen Schätzen belohnt. In diesem Essay findet der Leser Reisenotizen sowie Reflexionen, die ich während meiner Voyage in Adscharien, in den Bergen als auch an der Küste, gemacht habe.

Adscharien ist ein ganz spezieller Teil Georgiens. Für mich ist es ein Puzzle, dessen Teile so bunt und so verwirrend aussehen, dass sie sich zu einem einheitlichen Bild kaum zusammenfügen lassen. Die Geschichte dieser Region, die einmal Bestandteil eines antiken Staates, der alten Kolchis gewesen ist, stellt für mich eine geschickt veranstaltete spannende Theater-Handlung dar.

Lange Zeit ließen mir solche Fragen wie etwa „Wer waren die alten Kolchen und welchen Bezug haben sie zu den heutigen Bewohnern Georgiens?“ keine Ruhe. Dieses Interesse wurde vom Roman „Der Garten von Dariatschangi“ des georgischen Schriftstellers Otar Tschiladse noch mehr angespornt.

Foto: Das Buch «Batum und seine Umgebung», Ausgabe, gewidmet dem 25-jährigen Jahrestages seit der Angliederung Batums an das Russische Imperium

So startete ich in der Georgischen Nationalbibliothek meine Recherche in den alten Büchern aus der Zeit vor 1917. Dabei fand ich im Buch „Batum und seine Umgebung“ aus dem Jahr 1906 zur Geschichte der alten Kolchis Folgendes:

„Die ursprüngliche Bevölkerung des Landes bildeten die Kolchen, die Geniochen, die Chaldäer, die Meschetiner, die Tubalen. Diese Völker hatten ihre eigene Kultur, und sie standen auf einer hohen Stufe der Handels- und Wirtschaftsentwicklung. Sie handelten mit Phöniziern, indem sie ihnen Sklaven und Kupfer-Geschirr schickten, sie bearbeiteten Leinenstoffe nach ägyptischer Art, weshalb Herodot seine Theorie darüber entwickelte, dass die Kolchen von den Ägyptern und nicht von den Griechen abstammten; sie betrieben Viehzucht und Lederproduktion, und sie verkauften Bau-Holz für den Schiffbau.
Diese Völker hatten ein perfekt ausgerüstetes Heer, und sie waren kunstvolle Krieger, in Militärzügen sehr tapfer, und im privaten Leben liebten sie Feste (…). Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass alle großen Eroberer der Antike Herrscher dieses wundervollen Landes werden wollten, das im Volksmund der alten Griechen als Quelle des Goldes, des Reichtums und folglich des Volksglückes bezeichnet wurde. Herodot zufolge wurde die Kolchis von den Ägyptern, Hellenen, Persern, Skythen, Römern, Mongolen, Genuesern, Arabern, Byzantinern, Türken, etc. regiert“.

Von all dem ausgehend, nahm ich an, dass wenn es jemals auf dem Gebiet des heutigen Georgiens einen Schmelztiegel der Nationen gegeben hat, so waren das die Gebiete von Westgeorgien und unter anderem die Region Adscharien. Für dieses Land kämpften alle großen Königreiche der Antike miteinander, von denen jedes seine Spur im kulturellen und historischen Erbe dieses Gebiets hinterlassen hat. Und nicht immer haben die Eroberer nur Tod, Leid und Zerstörungen mit sich gebracht. Im Gegenteil, viele große Errungenschaften und Entdeckungen jener Zeit standen im Zusammenhang mit diesen endlosen Konkurrenz-Kämpfen.  Sonst hätten wir heute nicht so viele Schätze als Hinterlassenschaft jener Epoche, wie etwa die so genannten Brücken der Königin Tamar, die in den Bergen von Adscharien überall zerstreut sind. Diese Brücken, die einst auf den wichtigen Handelswegen lagen, wurden zwar schon im Mittelalter, aber dennoch nach altrömischen Technologien gebaut, als die Zeit der römischen Herrschaft längst vorbei war. Aus Liebe zu der im Volke hochverehrten Königin Tamar, der Regentin aus dem Goldenen Alter der georgischen Geschichte, wurde diesen Bauten Tamars Name verliehen.

Foto: Eine der zahlreichen Tamars-Brücken in den Bergen von Adscharien

Oder noch ein Beispiel. Die Stadt Batumi, die in der Antike Bathys oder tiefer Hafen hieß, lag einst in einem wenig attraktiven Sumpfgebiet, wo es vor Malaria-Mücken keine Rettung gab. Die Eroberer, die diesen Hafen zu strategischen und handelsbezogenen Zwecken verwendeten, haben sich viel Mühe gegeben, um diese Sümpfe trockenzulegen und die Gegend um diese Stadt herum zu veredeln.

Wer heute nach Adscharien kommt, wird garantiert schnell und leicht in den Bann seiner Kultur, Geschichte und seiner Traditionen gezogen. So passierte es auch mit mir.

Lazika

 

Auf dem Gebiet des heutigen Adschariens lag einst auch Lazika, das eine Zeit lang eine römische Provinz gewesen war. Wie sah dieser Staat aus und wer waren seine Bewohner, die Lazen, über deren Tapferkeit und Wagemut es viele Legenden gab?

Der französische Gelehrte Marie-Felicite Brosset, der sich im 19. Jahrhundert mit dem Studium Georgiens befasste, wunderte sich etwa darüber, wie unzureichend Lazika von den georgischen Wissenschaftlern erforscht wurde. Brosset bemerkte unter anderem, sogar die Angaben der Griechen, die auf diesem Gebiet viele Kriege geführt hatten, seien ungenau und verwirrend gewesen.

Heutzutage leben die Lazen nur in einer einzigen Siedlung Georgiens, in Sarpi. Die Restlichen, etwa 100 000 Menschen, leben in der Türkei, im Bezirk Trapezunt. Sie galten immer als kunstvolle Krieger und Seeleute sowohl als Meister der Holzverarbeitung und hervorragende Bauleute. Man sagt, das adscharische Fladenbrot Chatschapuri, das in der Form eines Bootes mit einem Ei in der Mitte gemacht wird, sei eine lazische Erfindung gewesen. Man erzählt auch, die romantische Küsten-Festung Petra in der Siedlung Tsichisdziri wurde als ‚kadschetis tsiche‘, die Festung des Teufels bezeichnet, da die Lazen unter anderem als schlaue, geschickte und tapfere Piraten, sprich: Meeresteufel, galten. Diese Festung wurde angeblich auch im Poem von Schota Rustaveli „Der Recke im Tigerfell“ erwähnt. In Rustavelis Zeit galt die Teufelsfestung als unangreifbar. Wohl deshalb wurde Rustavelis Hauptheldin, Nestan-Daredschan, ausgerechnet dort in Haft gehalten.

Über die Bevölkerung der alten Kolchis und später des Staates Lazika findet man viele oft verwirrende Informationen. Im Buch „Die Meeresküste von Batum. Die russischen Tropen“ aus dem Jahr 1911 las ich über Lazika Folgendes:

«Seit dem Altertum war Lazika in mehrere kleine Herrschaftsgebiete aufgeteilt, die sich manchmal zu einem einheitlichen Staat vereinigten, doch öfter war dieses Land den Eroberern von außen untergeordnet. Viele interessante Angaben dazu findet man bei Herodot, Strabon und bei anderen alten Historikern. Sie geben uns wertvolle und genaue Angaben über die alte Geografie dieses Landes, über seine Völker – die Kolchen, die Geniochen, die Chaldäer und s.w. (…). Doch leider findet man in den alten Chroniken überhaupt keine Angaben zu den genetischen Verbindungen dieser Stämme, die nur geografische Namen hinterließen. Die Beschreibungen von einzelnen kaukasischen Völkergruppen bei verschiedenen klassischen Autoren kommen vielen kaukasischen Völkern nahe, und es ist sehr schwierig, unter ihnen die Vorfahren der jetzigen Bewohner der Kolchis zu finden. Es kann leicht sein, dass einige kolchische Völker, die von klassischen Schriftstellern erwähnt wurden, sich auflösten, um neue ethnografische Mischungen zu bilden, während andere Stämme das Land für immer verließen und ihre Häuser den neuen Bewohnern hinterließen. Nicht weniger wahrscheinlich erscheint, dass sich viele der alten kolchischen Geschlechter wenig verändert haben und dass sie weiterhin dort leben, wo ihre Vorfahren, die Verwandten von Ramses, Kyrus und Pompeius gelebt haben. Wie groß die Zahl der einzelnen Völkergruppen gewesen ist, sieht man anhand der Aussagen von Strabon, der behauptete, die Römer hätten bis zu 70 Dolmetscher bereit gehabt, um Beziehungen zu den an der kaukasischen Küste des Schwarzen Meeres lebenden Völkerstämmen zu unterhalten“.

So eine Sache mit dem Glauben

Das Glaubensbekenntnis der Bewohner von Adscharien ist ein bemerkenswertes Thema. Einerseits gilt Adscharien als die Wiege des Christentums in Georgien: Andreas der Erstberufene hat in den hiesigen Bergen bereits im ersten Jahrhundert gepredigt. Davon erzählte mir Ioan Gorelischwili, Erzpriester der Kathedrale von Batumi: „Als Jesus Christus seine Apostel beauftragte, die Erde untereinander aufzuteilen, um in allen Ländern zu predigen, wurde Georgien der Mutter Gottes zuteil.  Die Heilige Maria sollte in unserem Land predigen. Doch als sie hierher unterwegs war, holte sie der Herrgott zu sich in den Himmel. Statt ihr schickte er nach Georgien Andreas den Erstberufenen mit der Ikone der Gottesmutter in der Hand. Er kam zu uns über das Gebiet des heutigen Adschariens“.

Andererseits hatte hier im Laufe von drei Jahrhunderten das Osmanische Reich den Ton angegeben, dessen Politik unter anderem in der Islamisierung der lokalen Bevölkerung bestand. Dabei muss man verstehen, dass viele Jahrhunderte lang der Begriff „Georgier“ dem christlichen orthodoxen Glauben gleichgesetzt wurde. Deshalb verloren alle Georgier, die ihren Glauben aufgegeben hatten, zumindest in den Augen ihrer übrigen Landsleute ihre nationale Identität. Aber die Bewohner Adschariens haben es geschafft, einen „mittleren Weg“ zu finden. Davon erzählte mir Temuri Tunadze, ein Historiker aus Batumi:

„Bei uns in Georgien haben sich der Glaube und die Nationalität dermaßen angenähert, dass man sie sich getrennt voneinander kaum vorstellen kann. Doch wegen der Verbreitung des Islams in Adscharien spielte dieses Thema keine Rolle mehr. Da die Menschen ihren Glauben wechselten, sei es freiwillig oder nicht, wurden sie sich dessen bewusst, dass sie zwar einem anderen Glauben angehören, doch das dürfte man mit ihrer Nationalität nicht verwechseln. Sie wollten ihre nationale Identität auf keinen Fall verlieren, was früher immer automatisch passiert wäre. In Adscharen wurde die Symbiose des Glaubens mit der Nationalität zerstört“.

 

Beim Reisen in dieser Region fällt auf, dass sich alle Menschen gegenüber den Glaubensfragen tolerant verhalten. Im Laufe meiner Reisen und meiner zahlreichen Gespräche mit den Einheimischen verstand ich, dass der Glaube in Jesus Christus bei den Bewohnern Adschariens irgendwie auf genetischer Ebene gespeichert ist: Auf die Frage, welcher Religion sie angehören, gaben mir fast alle meine Gesprächspartner fast immer die gleiche Antwort: „Ursprünglich waren wir Christen, doch dann fielen die Türken ein…“

Eine Bekannte von mir aus Adscharien erzählte, ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter seien Moslems gewesen, doch als sie auf einer Tonpfanne Mtschadi, die georgischen Maismehlfladen backten, machten sie immer ein Kreuz in der Mitte, denn das sei von ihren Vorfahren schon immer so gemacht worden.

In verschiedenen Zeiten erlebten die Bewohner Adschariens verschiedene Peripetien: sie wurden christianisiert, dann islamisiert, später zum sowjetischen Atheismus bekehrt, dann re-islamisiert und letztendlich re-christianisiert. Die sowjetische Zeit war für alle Gläubigen besonders gnadenlos. Doch gegenüber den Moslems hatten sich die Sowjets weniger tolerant verhalten als gegenüber den Christen, obzwar alle Gläubigen, ob sie zur Kirche gingen oder zur Moschee, mit gleicher Wachsamkeit beobachtet wurden.

Jakob, ein Bekannter von mir aus Chulo, ist Moslem mit einem christlichen Namen. Er berichtete, sein Vater, ein Moslem, habe seinem Sohn einen christlichen Namen gegeben, „um somit weniger als Moslem aufzufallen“.

„Hier bei uns hat man immer an Gott geglaubt, sagte mir Jakob. Doch beten durften nur die Alten, den Kindern wurde das versagt, damit sie keine Probleme bekamen. Wo jetzt in Chulo eine Moschee ist, war zur Sowjetzeit ein Speicherraum. Und wir alle haben unseren Glauben vorsichtig ausüben müssen, um nicht aufzufallen. Sogar Beerdigungen nach moslemischer Art durften wir nicht abhalten. Deshalb haben wir unsere Toten immer nachts beigesetzt. Wenn jemand erfahren hätte, dass wir einen Verstorbenen nach moslemischen Sitten bestattet hätten, wären wir unseren Job schnell losgeworden“.

Der Einfluss der orthodoxen Kirche in Adscharien nimmt in den letzten Jahren zu, obzwar, den Berichten der Einwohner von Chulo zufolge, noch in den 1990ern die orthodoxen Prieser in dieser Gegend von den Einheimischen mit Waffen in der Hand empfangen wurden. In der Tat habe ich bei meinen Reisen in Adscharien Folgendes bemerkt: Zu den Glaubensfragen verhält man sich dort recht eklektisch. Die Moslems trinken gerne Wein und Tschatscha (georg. Traubenschnaps), während die verheirateten Christen sich keine Chance entgehen lassen, einer schönen Frau, doch nicht ihrer eigenen, den Hof zu machen (das ist natürlich ein Witz, der naturgemäß einen Teil der Wahrheit enthält).

In der Wirklichkeit fühlt sich jedermann unabhängig von seinem Glaubensbekenntnis in Adscharien wohl. Und ein Beweis dafür ist ein Hotel, das vor kurzem in den Bergen von Adscharien nahe Schuachewi eröffnet wurde. Es heißt „Gomarduli Zen Garden“, und es sieht tatsächlich aus wie ein buddhistisches Retreat-Zentrum. Hier werden Meditations- und Yoga-Workshops sowie Body-Work-Festivals veranstaltet. Als ich in dieses Hotel unterwegs war, hatte mich eine Frage brennend interessiert: Wie passt die Philosophie des Zens in die moslemische Realität dieser von der Zivilisation weit entfernten paradiesischen Ecke der Welt?

Fotos: Das Resort Gomarduli Zen Garden

Der Ukrainer Jewgenij, Besitzer dieser Einrichtung, verriet mir Folgendes: „In die lokalen Gegebenheiten passt mein Hotel auf wunderbare Weise, denn ich propagiere hier niemandem meine Ansichten. Und natürlich sieht mein Haus rein aus ästhetischer Sicht wie ein buddhistisches Kai-Zen-Kloster aus, und das auf dem Land, das lange Zeit moslemisch gewesen ist. Doch in Wirklichkeit gehen hier viele Menschen sowohl zur Kirche als auch zur Moschee, und sie sind grundsätzlich nicht sehr religiös, was mir natürlich in die Hand spielt, denn keine Religion steht zwischen uns und wir können miteinander einfach als Menschen kommunizieren. In meinem Haus haben Ordnung und einfache menschliche Beziehungen – all die Sachen, die in der ganzen Welt unabhängig von Religion und Nationalität geschätzt werden“.

Im Dorf Kvirike, Kreis Kobuleti, besuchte ich eine alte, vollständig aus Holz geschnitzte Moschee, ein Meisterwerk der lazischen Handwerker. Bei der Führung in diesem  Haus beklagte sich Aslan Abaschidse, Rektor dieser Moschee, darüber, dass seine Dorfbewohner in Glaubensfragen zwischen dem Islam und dem Christentum nicht besonders stark unterscheiden: „Sie glauben sowohl an das eine als auch an das andere. Ich habe etwa einige Verwandte, die zum Christentum gewechselt sind. Wozu, frage ich mich. Ich sehe darin keinen Sinn. Freilich mache auch ich nicht zu hundert Prozent alles, was im Koran geschrieben steht. Doch hier tragen viele Menschen Kreuze um den Hals, und sie denken, damit ende ihr Glaube. Doch damit endet nichts, damit sollte der Glaube beginnen und man sollte ihn immer in seinem Herzen tragen.  Es gibt bei uns Moslems, die kaum zur Moschee gehen und sich nur an Feiertagen erinnern, dass sie Moslems sind. Doch für alle Menschen ist der Glaube das Allerwichtigste. Und der Herrgott sieht alles. Und jeder von uns geht seinen Weg zu ihm, und jedermann wird einmal auf seine Fragen antworten müssen – egal ob man Moslem oder Christ ist“.

Foto: Die Moschee vom Dorf Kvirike

Wer sind Adscharen?

Woher die Adscharen abstammen, ist nicht ganz klar. Einer Theorie zufolge ist das kein Volksstamm, sondern ein Toponym, das vom Fluss Adscharistschali abgeleitet wurde, und die Adscharen seien zum größten Teil eine Mischung aus Guriern, Megrelen und Lazen.  Es gibt aber auch eine andere Meinung: Die Adscharen seien genauso ein Volksstamm wie die Gurier, die Megrelen, die Kachetiner oder Abchasier.

Welche von den beiden Versionen ist richtig?  Da streiten sich die Geister. Wie dem auch sei, die Adscharen sind ein warmherziges und gastfreundliches Volk. Doch liest man die Beschreibungen von vor hundert Jahren, wird einem Angst und Bange zumute.

Hier ist ein Auszug aus dem Buch „Bemerkenswerte Ecken des Kaukasus. Kreis Batumi und Swanetien“ aus dem Jahr 1886:

„Nach dem, was man sich erzählt, sowie nach eigenen Beobachtungen lässt sich schließen, dass die Bewohner dieses Kreises wild, äußerst leidenschaftlich und beweglich sind, sie geben sich jedem ersten Gefühlszug ohne nachzudenken hin, obzwar sie sich bei unwichtigen Dingen sehr zurückhaltend und beherrscht zeigen. Sie sind furchtbare Fanatiker insbesondere in Fragen der Ausübung von Religionsriten, und sie hassen die Russen unheimlich (…).
Die Blutrache wird in diesem Kreis überall verübt, und man sagt, die jeweiligen Abrechnungen zwischen den Einheimischen seien so kompliziert und dermaßen verworren, dass wenige von ihnen wagen, sich nachts auf den Weg zu machen, denn jemand von seinen Verwandten könnte eine blutracheträchtige Schuld haben, und für die Bluträcher sei es am bequemsten, ihren Pflichten nachts nachzugehen.
Dafür mögen sie tagsüber müßig von einem Dorf ins andere zu ziehen und dabei mit Genuss mit der Waffe in die Luft schießen“.

Gott sei Dank habe ich auf meinem Weg über den Goderdzi-Pass nach Chulo, die Hauptstadt von Gebirgs-Adscharien, keine Schüsse gehört. Und ich machte dort noch eine kostbare Erfahrung: in den entlegenen Gegenden dieser Gebirgs-Region kann man sich leicht mit jedem Menschen anfreunden.

Fotos: Goderdzi-Pass

Als ich im Zentrum von Chulo nach Informationen über die Öffnungszeiten des lokalen ethnographischen Museums suchte, bot mir ein gutmütig aussehender Taxifahrer, Jakob, seine Hilfe an. Nachdem er das Ziel meines Besuches erfahren hatte, brachte er mich direkt zum Museumsführer nach Hause, da das Museum geschlossen war, und dann organisierte Jakob für mich noch ein Treffen mit einem seiner Verwandten, einem Historiker. Später verkündete mir Jakob noch eine Nachricht: Seine Tochter wartete bereits bei ihm zu Hause auf uns mit einem Abendessen, für das sie — extra für mich (!) — die lokalen Spezialitäten gekocht hatte.

Vor dem Abendessen fuhr mich Jakob zu einer der berühmten Tamar-Brücken, dieser nicht wegzudenkenden Sehenswürdigkeit der hiesigen Berge. Historiker Dschemal, Jakobs Schwager, schilderte mir mit Stolz das Goldene Zeitalter Georgiens, die Ära der Regierung der Königin Tamar und des Schaffens des großen und unübertroffenen Dichters Schota Rustaveli, und verkündete, die Renaissance habe in Georgien ein Jahrhundert früher angefangen als in Europa“.

Bild: Die Königin Tamar

Bei Jakob zu Hause warteten auf uns seine Tochter und seine 92-jährige Mutter Fati. Die beiden hatten bereits eine Tafel gedeckt, die aus den lokalen Spezialitäten bestand: Sinori, einer Art adscharische Lasagne, Burano, einem Kartoffelbrei mit Käse und geschmolzener Butter, und Tschinschili, einem lustig aussehenden in Zöpfe geflochtenen trockenen Käse. Bei Tafel hatte Jakob mit üppigen Trinksprüchen gestreut, Akkordeon gespielt und gesungen. Später gesellten sich uns noch zwei weitere von Jakobs Verwandten dazu. Wir sprachen über die verzwickte Familiengeschichte, die reichhaltigen Traditionen und Sitten dieser Gegend sowie über das Leben früher und heute.

Fotos: Festtafel in Jakobs Haus

 

Dabei hatte mich am meisten Jakobs Mutter Fati beeindruckt, die sieben Kinder und siebzehn Enkelkinder hat. Diese ruhige Frau mit weisen, ins Wesen der Dinge durchdringenden Augen beobachtete unser Fest bis zum Schluss. Und man sah, wie stolz Jakob auf seine Mutter war, die den Tisch vor dem Abzug der Gäste nie verlasse.

Foto: Fati, Jakobs Mutter, 92 Jahre alt

Es wäre zu schade gewesen, Fati nicht danach gefragt zu haben, wann ihr Leben schöner gewesen ist, früher oder heute. Dabei habe ich natürlich eine bei alten Menschen übliche Antwort erwartet: Früher sei alles besser, schmackhafter, heiterer, schöner, großartiger gewesen. Fatis Antwort hingegen hatte mich überrascht. „Früher, als wir jung waren, hatten wir ein schweres Leben. Wir mussten viel arbeiten, aber gelebt haben wir sehr bescheiden. Wir hatten weder genug Brot noch genug Mais. Und deshalb mussten wir beim Brotbacken zum Mehl noch die Schalen der Maiskolben beimischen. Und heute sehen Sie selber: Unser Tisch ist immer voll, und wir leiden keine Not mehr“. „Natürlich, fügte Fati hinzu, war ich am glücklichsten, als meine Kinder geboren wurden und als mein Ehemann noch bei mir war. Unsere große Familie half uns, die Kinder aufzuziehen, denn die Alten lebten immer zusammen mit den Jungen“.

Jakobs Familiengeschichte ist für die Einwohner dieser Gegend typisch. Sein Vater wurde 1919 geboren, und er sei ein braver und gesunder Mann gewesen, der niemals auf ein Auto wartete und immer lange Strecken zu Fuss zurücklegte. „Mein Vater war ein streng gläubiger Moslem und hatte keine Angst, dies offen auszuleben und zu beten, sagte mir Jakob. Bei uns in Chulo funktionierte die Moschee nicht, weshalb mein Vater einen langen Weg nach Batumi gehen musste. Der KGB hatte allen Gläubigen nachspioniert. Und sie machten meinem jüngeren Bruder, der damals in Chulo als Untersuchungsrichter arbeitete, Probleme. Als man ihn zum Richter ernennen wollte, hatte man ihn zunächst gewarnt, er solle dem Vater sagen, er solle aufhören, in der Moschee zu beten, und er möge seinen Bart abrasieren. Doch mein Vater wollte davon nichts hören! Somit war die Karriere meines Bruders in Chulo zu Ende, und er musste nach Batumi umziehen, um dort sein Glück auszuprobieren“.

Inzwischen hat sich vieles verändert. Die Familie von Jakob ist zum Teil christlich geworden. Seine Tochter heiratete einen Mann aus Kutasi (in Imeretien) und ließ sich taufen. Zur Christin ist auch Jakobs Schwester geworden, die eine Stelle in einer christlichen Schule bekam. Die Voraussetzung für die Aufnahme war ihr Religionswechsel. Doch Jakob macht sich über all diese Gegebenheiten keinen großen Kopf. Er sieht es philosophisch und sagt, jedem das Seine.

Foto: Jakob mit seiner Familie

Bei der Festtafel in Jakobs Haus fiel mir auf, dass keine Frau im Haus Alkoholgetränke anrührte. Doch aus irgendeinem Grund wurde ich aus dieser Sitte ausgenommen. Ich war ja ein Ehrengast, dem immer reichlich und regelmäßig eingeschenkt wurde. Ein paar Male haben mich die Männer sogar dazu bringen wollen, mein Glas auf Ex zu leeren. Die Begründung meiner neuen Bekannten lautete: „Du bist Christin, und das verpflichtet dich dazu, DAS GETRÄNK zu ehren“. Mir half dann nur die Erwähnung der Tatsache, dass ich am nächsten Tag selber fahren muss. Mein Recht, mit den nicht trinkenden Frauen gleichbehandelt zu werden, musste ich mir schwer erkämpfen.

Und dies schrieb in seinem Buch „Die Bemerkenswerten Ecken des Kaukasus“ der russische Reisende Igor Kanewski im Jahre 1886:

„Das Verhalten der hiesigen Männer gegenüber ihren Frauen ist äußerst seltsam. Es ist eine Mischung aus glühender südländischer Eifersucht, die durch religiöse Einstellungen genährt wird, und einer Art Rittertum, gemischt mit Abscheu und Vernachlässigung (…).
Sie werden auf eine verstärkte Art und Weise eingesperrt und eingehüllt, so dass sie fast hermetisch wirken, und sie werden aus ihren Käfigen nur zu Feldarbeiten und nur unter der Bedingung rausgelassen, dass ein untreuer Blick eines Fremden nicht in den Genuss des Anblickes dieser verhüllten Person selbst aus Dutzenden von Metern kommen kann.
Wie wild, scheu und beschränkt diese unglücklichen Frauen doch sind, die von der Natur in diesen abgelegenen unzugänglichen Schluchten versteckt und durch strenge Sitten in den Harems eingesperrt sind, all das ist kaum fassbar“.

Im ethnographischen Museum von Chulo erzählte mir die Museumsführerin Nana Schantadze viele Geschichten von der Emanzipation der adscharischen Frauen in der Sowjetzeit. Die Vertreterinnen des s.g. schwachen Geschlechtes bekamen Stellen im lokalen Theater sowie im Tanz- und Musik- Ensemble, und sie wurden sogar in verschiedene öffentliche Ämter aufgenommen. Dennoch verfolgte mich immer wieder der Eindruck, dass die adscharischen Frauen aus den Berg-Gebieten trotz der Emanzipationsbewegung der letzten Jahrzehnte in der sozialen Hierarchie eine viel niedrigere Stellung haben als die Männer.

Foto: Nana Schantadse bei der Führung im Museum von Chulo

Eine ganz besondere Art der Gastfreundschaft

 

Vor dem Besuch im gastfreundlichen Haus von Jakob wurde ich dort auch zum Übernachten eingeladen. Aus diesem Grund musste ich meine geplante Übernachtung in einem Gasthaus kündigen, was mir Jakob gleich nach meiner Ankunft in Chulo selbst organisiert hatte. „Mach Dir keinen Kopf!“ sagte mein Gastgeber. „Du kannst in jenem Gasthaus einfach nicht erscheinen und Schluss“. „Es ist doch unanständig, mich anzumelden und dann nicht zu kommen!“ empörte ich mich. „Kein Problem! Sie warten eine Weile auf dich, und dann werden sie verstehen, dass du nicht kommst“, tröstete mich Jakob. „Aber man wird für mich dort wie verabredet das Abendessen kochen. Ich kann das einer Gastgeberin nicht antun“, wandte ich ein. „Wenn du dich schlecht fühlst, dann gehe selber hin und entschuldige dich bei ihnen dafür. Ich gehe mit dir nicht hin, denn sie werden mit mir böse werden, da ich dich, ihren Gast, ihnen geklaut habe“, erklärte mir Jakob. Also blieb mir nichts anderes übrig, als alleine ins Gasthaus ‚mit Buße‘ zu gehen.

Da wäre die Meinung eines Antрropologen angebracht. Zufällig kenne ich eine. Sie ist sogar eine Freundin von mir, eine Amerikanerin, die in Georgien seit fast dreißig Jahren lebt. Mary Ellen hatte über die georgische Gastfreundschaft ihre Doktorarbeit geschrieben und dafür das ganze Land bereist. Sie behauptet, diese Art Gastfreundschaft, die in Georgien verbreitet ist, könne man als ‚aggressiv‘ bezeichnen. Wenn ich an meine Geschichte zu Besuch bei Jakob zurückdenke, neige ich dazu, mich damit einverstanden zu erklären.

Was kann ich hier noch hinzufügen? In Adscharien sagt man, ein Gast habe Gottesbeine. Wird daraus nicht ersichtlich, warum jeder Einwohner dieser Gegend einen Gast in sein Haus holen möchte? Im ethnographischen Museum von Chulo erzählte mir Nana Schantadze, jedes Haus in Adscharien musste immer Ehrengemächer für die Gäste haben. Dorthin, meistens in den ersten Stock des Hauses, führte eine separate Freitreppe, die nur dem Besuch zur Verfügung stand.

Gastfreundschaft ist ein Phänomen, das der Ethnopsychologie der Georgier zugrunde liegt. Und das betrifft in hohem Maße die Bewohner von Adscharien. Ich wurde davon überzeugt, als ich mich der Zufall ins Dorf Tskarota brachte. Dort wartete auf mich eine neue Überraschung. Oder vielleicht eine gesetzmäßige Entwicklung der Ereignisse? Ich wurde wieder nach Hause zu unbekannten Menschen eingeladen!

Als er sah, dass ich mich in den unbekannten Bergstraßen verfahren habe, lud mich Zurab aus diesem Anlass ein, seine Familie zu besuchen. Es wäre einfach sündhaft gewesen, diese Einladung nicht angenommen zu haben! Denn wie sonst hätte ich erfahren, wie die Menschen in diesen hochgelegenen traditionellen Dörfern leben, von denen man im modernen, durch und durch globalisierten Europa nicht einmal etwas ahnt? Dort fließt das Leben genauso wie noch vor hundert oder zweihundert Jahren.

Meine Annahmen wurden bestätigt: Der 36-jährige Zurab ist Oberhaupt einer Familie, die neben ihm aus seiner bildschönen jungen Frau, seiner verwitweten Großmutter und drei kleinen neugierigen Söhnen besteht. Die Familie versorgt sich vollständig selbst mit Hilfe der Landwirtschaft, obzwar Zurab ausbildungsbedingt durchaus als Buchhalter oder Manager arbeiten könnte. Doch dafür müsste er sein Dorf verlassen. Und das will er nicht. Im Hof liegt ein schöner großer Garten, und es gibt Ställe für das Vieh und viele Käfige mit Kaninchen. Alles wächst und gedeiht hier prächtig. Und damit es noch schöner wird, brennt Zurab Schnaps aus Obst, und er hat auch seinen eigenen Tabak, der in Adscharien überall wächst.

Foto: Zurabs Familie, Dorf Tskarota

In seinem großen Haus auf Pfählen, das vollständig aus Kastanienholz gebaut ist, riecht es wie in einem Märchen-Gemach: nach Komfort, Wärme und Gemütlichkeit. Von Zurabs Balkon eröffnet sich ein solcher Blick auf die naheliegenden Dörfer, dass einem die Ewigkeit ihre Umarmung zu öffnen scheint. Übrigens hatte mir Jewgenij, der Besitzer des ‚Zen Gardens‘ etwas Ähnliches gesagt: „Die Menschen in diesem Lande leben so, als ob sie ewig zu leben gedenken“. Niemand ist in Eile, die Ruhe und Gelassenheit regieren hier den Alltag.

Foto: Zurabs Söhne

Nach einer spontan organisierten Festtafel, bei der es naturgemäß viele heitere Trinksprüche gab, führte mich Zurab in seinem Dorf herum. Mit großer Liebe sprach er von seiner kleinen Heimat. Natürlich kam ich in den Genuss des Anblickes einer weiteren Tamar-Brücke sowie einer Wassermühle und eines kosmischen Wasserfalls an einem abseits des Dorfes fließenden Bergfluss.

Selbst wenn man in den Bergen von Adscharien viel Zeit verbringt, hört man nie auf, sich für die üppige Natur dieser Gegend zu begeistern: für die zahlreichen, doch einander nicht ähneln wollenden Wasserfälle, für die stürmischen Bergbäche, die geheimen kleinen türkisfarbenen Seen, die dschungel-ähnliche Flora und die großartigen Panorama-Ausblicke.

Foto: Wassermühle am Bergfluss. Hier wird Maismehl gemacht.

 

Matschachela

 

Adscharien hat vier Nationalparks: Kobuleti, Mtirala, Kintrischi und Matschachela, jeder auf seine Art bemerkenswert und wertvoll.

In der Matschachela-Kluft wollte Sulchan, ein neuer Bekannter von mir, zusammen mit mir einige erst vor kurzem entdeckte Wasserfälle besuchen. Die schnelle Entwicklung des Tourismus in den letzten Jahren hat die lokale Wirtschaft schnell umorientiert. Fast in jedem Dorf gibt es neue Gasthäuser, und auch das Handwerk hat neue Impulse bekommen. Außerdem versuchen die Menschen, für die Reisenden neue interessante Orte und Wander-Routen zu finden, um den Gästen ihre Region im günstigsten Licht zu zeigen. Auf einen solchen Enthusiasten, Micho Kokoladse, trafen Sulchan und ich bei unserem Versuch, die geheimnisvollen Zwillings-Wasserfälle zu entdecken.

Zum Dorf Kokoleti führte uns ein steiler Weg, der im Himmel zu enden schien. Am Ende des Dorfes fragten wir einen Mann nach der von uns gesuchten Sehenswürdigkeit dieser Gegend. Unser Gesprächspartner Micho stellte sich als ein unbeschwerter, geselliger Mann heraus. Er erklärte sich ad hoc bereit, uns bei unserer Suche zu helfen. „Ihr habt Glück: Ich persönlich habe diese Wasserfälle entdeckt! Und ich fahre mit euch ein Stückchen mit, wonach wir zu den Wasserfällen zu Fuß gehen müssen“, sagte Micho heiter und sprang zu uns ins Auto.

Fotos: Der romantische Weg zu den Wasserfällen

Nach etwa fünfzehn Minuten Fahrt ließen wir unser Auto an einem schmalen Wald-Weg zurück, um uns weiter zu Fuß zu bewegen. Micho erzählte, diesen malerischen Steg habe er zusammen mit ein paar Nachbarn mit Holzgeländer und Stufen selbst versehen. Je weiter wir in die Landschaft vordrangen, desto dichter wurde der Wald. Das fallende Wasser war zwar von Weitem zu hören, doch um es zu sehen, mussten wir einen stürmischen Fluss zu Fuß überqueren, indem wir von einem, mit Moos bewachsenen, glitschigen Stein auf den anderen sprangen. An einer Stelle wurde der Fluss von einem gefallenen Baum überlagert. Dann musste jeder von uns entscheiden, ob er über den Baumstamm springen oder unter ihm durchtauchen wollte. Zum Glück kannte unser Begleiter hier alle Unterwassersteine und Haken und er führte uns geschickt zu der von uns ersehnten Stelle.

Foto: Zwillingswasserfälle vom Dorf Kokoleti

Als wir uns diesem Naturwunder näherten, verstanden wir, dass dieses Mowgli-Spiel es wert war, gespielt zu werden. In einem mächtigen Strom, der Myriaden von Spritzern erzeugte, stürzten zwei widerspenstige Bergflüsse abwärts, indem sie mit einem wilden Gebrüll in einem Dreieck gleich vor unseren Füßen zusammenflossen. Vom irrsinnigen Lärm konnten wir einander nicht hören. Anfangs sagte Micho, wir sollten unter diesen beiden Strömen unbedingt baden gehen. Und wir waren zunächst tatsächlich voller Enthusiasmus, uns in diese zwei Bergströme zu stürzen. Doch es wurde langsam dunkel, und wir wurden von der kühlen Gischt schon ziemlich stark durchnässt, so dass wir letztendlich auf das Baden verzichteten.

Der Ort, wohin uns Micho brachte, liegt hoch in den Bergen. Doch dann eröffnete uns unser Begleiter noch ein Geheimnis, indem er seinen Arm ausstreckte und damit noch höher deutete: Über diesen Zwillingswasserfällen liege ein weiterer prächtiger Wasserfall, „von dem man so richtig verrückt werden könne“, bloß gebe es noch keinen gescheiten Steg, der dahin führt. Wenn wir Glück haben, wird Micho auch das bald bewerkstelligen!

Die Welt steckt voller Geheimnisse, die noch entdeckt gehören. Und in Adscharien wird das einem erneut bewusst.

Bei der Rückwanderung machten wir an einer Bank halt, auf der zwei alte grüne Wodka-Gläser standen. „Es sind meine Trinkbecher, verkündete Micho mit Stolz. Ich habe sie hier extra für meine Gäste stehenlassen. Einen Augenblick! Gleich kommt auch der Wodka!“ Daraufhin lief Micho irgendwohin weg, sprang schnell ins kalte Wasser, das ihm bis zum Knie reichte, und kam zurück mit einer Trophäe, einer Flasche eiskalten Honigschnapses. „Ich halte hier im Fluss eine Flasche von diesem Schnaps für meine Gäste immer bereit, damit sie nach der Anstrengung voll in den kühlen Genuss kommen. Es ist mein eigener, selbst gebrannter Schnaps! Kostet es bitte, liebe Freunde! Prost! Gaumardschos!“

In der Matschachela-Schlucht warten auf einen neugierigen Touristen viele Überraschungen. Und dazu gehören nicht nur kostbare Naturwunder und erstaunliche Bauwerke. Micho Kokoladse kann man getrost zu einer lokalen Sehenswürdigkeit zählen, einer lebenden.

Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion diente Micho in der Handelsflotte und auch bei der Marine. Er war Matrose, Mitarbeiter der Kantine, Koch und Motormechaniker. Elf Jahre lang segelte Micho durch Meere und Ozeane. „Jedes Mal, wenn ich zur See zog, träumte ich davon, nur für einen Tag in mein Heimatdorf zurückzukommen, um dort abends mit meinen Freunden Joker zu spielen und dann wieder loszuziehen. Die Seefahrt ist eine monotone Sache, von der man müde wird. Ein Schiff ist ein schwimmendes Gefängnis: Man sieht immer nur dieselben Menschen, und das Land sieht man Monate lang nicht. Insbesondere wenn man Nachtdienst hat, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein“.

Nun macht Micho Honig und Honigschnaps und empfängt in seinem Gasthaus Gäste. Das Panorama, das sich von seinem Haus aus eröffnet, erlaubt eine gute Aussicht auf die gesamte Matschachela-Schlucht. Man hat den Eindruck, über den Bergen und den Wäldern zu schweben. „Ich habe in meinem Leben viel gearbeitet“, sagte Micho. „Die Erde ist nun mal rund, und so kam ich nach Hause zurück. Wahrscheinlich habe ich das auch wirklich verdient. Jedenfalls bin ich glücklich und zufrieden und ich danke Gott dafür!“ Wenn er einmal in die Stadt zu Besuch gehe, erzählte mir Micho, könne er dort nachts nicht schlafen: Er könne weder Stadtlärm noch stickige Luft vertragen. „Wie kann man in einer Wohnung leben? Wie kann man ohne die Nähe zur Natur überleben? Das wahre Leben spielt sich doch nur auf dem Lande ab. Hier muss man zwar viel arbeiten, aber man hat auch Zeit, um sich auszuruhen“, behauptete Micho Kokoladse.

Foto: Bei Micho zu Besuch

Micho wurde nicht nur zu unserem spontanen Fremdenführer, sondern er lud uns auch zu sich nach Hause ein, wo er uns mit seiner Frau und mit seinen weiteren lustigen Gästen bekanntmachte. Dann bewirtete er uns mit seinem frisch gezapften Honig, dem frisch gebackenen Brot und wieder mit Wodka, bevor wir weiterzogen – zu einem weiteren Besuch. Wegzufahren aus diesem Märchen-Haus am Rand der Welt fiel uns schwer. Doch an diesem Abend wartete auf uns in der Nähe von Batumi eine weitere wunderbare Familie.

Zarzma – Goderdzi – Chulo – Schuachewi — Tskarota – Keda – Batumi — Kokoleti – Tbilisi, Juli – August 2020

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