CROSSOVER RUSSLAND
Der GULAG-Überlebende Pawel Galizki schildert in einem Zeitzeugengespräch in St. Petersburg Stationen aus seinem 98-jährigen Leben
Hätte er jemals geahnt, durch welche Teufelsmühlen ihn das Schicksal treiben würde? Drei Hungersnöte — 1921, 1931 und 1936 — hat er überlebt. Und als wäre das nicht genug gewesen, folgten kurz darauf fünfzehn furchtbare Jahre in den stalinistischen Arbeitslagern.
Pawel Galizki kam in einer kleinen Siedlung am Asowschen Meer als Sohn eines Priesters in der fünften Generation zur Welt. Kurz nach der bolschewistischen Revolution 1917 starb Pawels Vater, Kalinnik Illarionowitsch, im kommunistischen Gefängnis, das sich im ehemaligen Kloster befand. Pawels Mutter, Jekaterina Viktorowna, blieb mit ihren fünf kleinen Kindern alleine zurück. Fünf ältere Geschwister lebten bereits selbstständig. Seinen älteren Bruder Sergej, einen begabten Künstler, hatte Pawel in den Bürgerkriegswirren für immer aus den Augen verloren. Erst in den 1970ern konnte er in Erfahrung bringen, dass dieser mit den Truppen des weißrussischen Generals Wrangel nach Frankreich ausgewandert war, wo er später als Fremdenlegionär in Marokko ums Leben kam. Pawels Mutter zog mit den Kindern zu ihrem Bruder auf die Halbinsel Krim um, wo der kleine Pawel von den Revolutionsideen angesteckt wurde.
Seine Mutter war «eine sehr weise Frau», so himmelt sie Pawel Galizki bis heute an. Wenn die Nachbarn zu ihr, der ehemaligen Popenfrau und Tochter eines Popen herbeieilten, um zu berichten, ihr Sohn Pawel marschiere zusammen mit seinen Freunden durch das Dorf und singe dabei «Nieder mit Mönchen, Rabbinern und Popen! Die Wissenschaft hat belegt: Es gibt keine Götter!», erwiderte sie gelassen, die Zeiten hätten sich geändert.
Hat er trotz seiner Abstammung an die Ideale des Kommunismus geglaubt? — «Und ob ich geglaubt habe! Ich glühte und brannte! In der Sowjetunion war es um die Propaganda nicht schlechter bestellt als im Dritten Reich bei Goebbels: Ich glaubte sogar an all die Märchen von ‘unserem guten Großväterchen Lenin’, der angeblich vom ganzen Land Geschenke mit Lebensmitteln bekam und all sie an die Kinder weiter verschenkte, um selber Hungersnot zu leiden. Dabei ist Lenin trotz all seiner Genialität ein Monster gewesen, das die KZs erfunden hat! Hitler hat später von Lenin gelernt!»
Doch all diese Wahrheiten wurden Galizki viel, viel später zuteil. Zunächst zog er zusammen mit zwei Freunden von der Krim nach Leningrad, das heutige Sankt Petersburg, um, um im Militärwerk Arsenal als Schmied und als Chefredakteur der Werkzeitung zu arbeiten und parallel dazu Journalistik zu studieren. Damals wurde er Komsomolze und sogar Mitgliedskandidat für die Kommunistische Partei. Doch der Partei durfte er nicht sofort beitreten, denn zusammen mit den Vertretern der Adelsschichten und den wohlhabenden Bauern gehörte er als Sohn eines Popen zum so genannten «Abschaum der Gesellschaft’.
An den Kommunismus geglaubt
Und dennoch: «Ich habe fest an den Sieg des Kommunismus geglaubt. Am Tag der Großen Oktoberrevolution am 7. November marschierten wir in schlanken Kolonnen auf den Platz vor dem Winterpalast zu, um unseren Führern zuzujubeln. Dabei sangen wir mit Begeisterung: «Wir Werktätige marschieren einträchtig entlang der Generallinie der Partei», erzählt Galizki mit einem ironischen Lächeln.
Der 98-Jährige gibt offen zu: «Wir haben damals nicht gelebt, sondern einfach dahinvegetiert. Wir Arbeiter haben von unseren Mindestrationen Lebensmittel gezehrt — von Brot, Butter und Zucker. Und das selbst in der Friedenszeit!» Um in der Werkskantine essen zu dürfen, musste Pawel einen Teil seiner Ration an das Werk abtreten.
Dafür ging es den Leningradern verhältnismäßig gut, sagt Galizki: «Meine Verwandten aus der Ukraine, wo entsetzliche Hungersnot herrschte, kamen einmal uns in Leningrad besuchen, um hier Brot zu besorgen. Auf einem der hiesigen Märkte kauften sie für viel Geld einen Sack voller Brotlaibe. Aber an der Grenze zur Ukraine wurde ihnen all das weggenommen! So kamen sie nach Leningrad wieder, machten aber auf dem Rückweg nicht denselben Fehler wie beim ersten Mal: Sie stiegen vor der Grenze zur Ukraine aus dem Zug aus und gingen dann mit ihren Brotsäcken zu Fuß nach Hause».
Die ihm anberaumte Probezeit von vier Jahren für seine Mitgliedschaft in der Partei hat Galizki nicht bestanden, denn jene Jahre fielen auf die schlimmsten stalinistischen Säuberungen, als «jedermann jedermanns Feind wurde». Es sei allen schon merkwürdig vorgekommen zu erfahren, dass man im eigenen Land unter lauter Feinden lebte! «Aber der Wurm des Zweifels zerfraß nicht nur mich, sondern er lebte in uns allen», erinnert sich Galizki. 1937 sei der Höhepunkt des Terrors gegen das eigene Volk gewesen, das ganze Land habe in Angst gelebt, während die Menschen immer verschlossener wurden.
Die Angst der Nachbarn
An sein persönliches Leben in Angst kann er sich sehr gut erinnern: «In der großen Gemeinschaftswohnung, die meine Familie mit mehreren Familien teilte, hatten die Nachbarn davor Angst, miteinander zu reden! Denn man brauchte nicht unbedingt etwas Böses gesagt zu haben, um bald verhaftet und ins Gefängnis gesperrt zu werden. Es reichte einfach, wenn einen jemand einfach denunzierte — etwa aus Neid oder aus Böswilligkeit. Wenn Freunde uns besuchten, prüfte ich zunächst gründlich, ob uns vielleicht jemand lauschte. Und einmal erwischte ich tatsächlich gleich vor der Tür unseres Zimmers einen Nachbarn, der uns nachspionierte. Ich drückte ihn an die Wand und er eröffnete mir, er sei von unserem Werk extra zum Nachspionieren bestellt worden».
Obwohl er — wie viele damals im großen Land — an der Zweckmäßigkeit der Säuberungsaktionen zweifelte, sei er selbst nie Dissident gewesen, sagt Pawel Galizki. Und trotzdem hat man auch ihn 1937 geholt, ausgerechnet an dem Tag, als er mit seiner mit ihrem zweiten Kind schwangeren Frau unterwegs zur Entbindung war. Man unterstellte ihm ‚antirevolutionäre Tätigkeit’ und ‚Beziehungen zu dem so genannten ‘fremden Element’. «Es war meine Mutter, die Priesterfrau, die mit meiner Familie zusammen lebte, zu der ich ‘die Beziehungen’ unterhielt. Hätte ich sie, eine alte Frau, wegen ihrer Herkunft etwa vor die Tür setzen müssen?» fragt der alte Mann, während der Groll ihm wieder aufsteigt.
Er habe keinen Strafprozess erhalten, sondern er wurde von der so genannten Troika, dem Chef des NKWD, dem Sekretär des Parteikomitees und dem Staatsanwalt, zu zehn Jahren Haftstrafe verurteilt. «Ich habe noch Glück gehabt, denn die meisten von meiner Sorte wurden an der Stelle erschossen», sagt Galizki mit einem schweren Seufzer.
Zuerst ging er auf einer Etappe über Tschita nach Burjatien, wo er die Eisenbahn Ulanude-Ulanbator mitgebaut hat, und danach 1938 in ein Gefangenenlager an der Kolyma, wo er im Sommer Gold gewaschen und im Winter Kohle abgebaut hat. Im Laufe der Jahre wurde seine Haftstrafe verlängert: «Wir waren bereits im Krieg. In einem Gespräch hatte ich gemeint: Hätte es keine Prozesse über die Spitze der Roten Armee gegeben, würde der Krieg eine ganz andere Wende nehmen. Jemand hat mich denunziert».
Mit wem hat er im GULAG sein Los geteilt? «Mit allen Vertretern der Gesellschaft — Arbeitern, Bauern, ehemaligen Adligen, Wissenschaftlern und Dozenten, aber auch mit Dieben und Kriminellen. Die Letzteren waren das Bollwerk der sowjetischen Macht im Gefangenenlager. Solche wie ich, das so genannte ‘fremde Element’, gehörten zur untersten Rasse».
«Wir schufteten wie die Esel»
Wie verhielten sich die Gefangenen zueinander? — «Mein Gott, welche Verhältnisse! Dort dachte jedermann nur an das Eine: Wie er möglichst wenig arbeiten und dafür möglichst viel zu essen bekommen kann. Doch es kam anders: Wir schufteten wie die Esel sechzehn Stunden pro Tag und wir starben weg wie die Fliegen. Es herrschten Frosttemperaturen von bis zu 60 Grad! Am 31. Dezember 1939 zeigte das Thermometer minus 67 Grad. Gott sei dank hat man uns an jenem Tag frei gegeben, weil wir unseren Plan um 160 Prozent erfüllt haben — auf den Knochen unserer Mitgefangenen!
Gelebt hat man von ungeputztem salzigem Stockfisch, der zur Suppe, der so genannten balanda, gekocht wurde, in der „ein Korn das andere nicht treffen konnte», und vom Brot — 600 bis 900 Gramm pro Tag. „Um 6 Uhr wurden wir geweckt, um 8 Uhr zur Arbeit getrieben, die 12 Stunden lang dauerte, darauf folgten zwei Stunden Bergvorbereitungsarbeiten, anschließend zwei Stunden Holzsammeln im Wald. Wir fielen um vor Müdigkeit, aber der Hunger ließ uns nicht schlafen. Wenn morgens das Brot kam, fielen wir wie hungrige Möwen darüber her».
Ist das GULAG wirklich so furchtbar gewesen, wie Solschenitzyn es in seinen Werken beschreibt? Der 98-Jährige runzelt die Stirn: Solschenitzyn hat vieles nicht beschrieben! Zum Beispiel, wie sich die Menschen selbst verkrüppelten, um nicht zur Arbeit gehen zu müssen, oder wie die Wächter, die Kriminellen, die Gefangenen demütigten und folterten.
Die Geschichte eines seiner Mitgefangenen stehe ihm bis heute vor Augen: «Er hieß Alexander Sologub und war 19 Jahre als, aber bereits Kommunist. Er war aus Polen geflüchtet, um in der Sowjetunion als Spion zu zehn Jahren Straflagerarbeiten verurteilt zu werden. Einmal standen wir beim Morgenappell, als er plötzlich aus der Reihe trat und aus voller Kehle schrie: «Es lebe Genosse Trotzkij! Es lebe Genosse Hitler!» Man führte ihn schnell ab, und wir glaubten, dass wir ihn niemals wieder sehen würden. Nach drei Monaten kam er zurück — unversehrt! Er berichtete von einem Konvoi nach Magadan und dem Verhör: Welcher geheimen Organisation angehöre er an? Darauf sagte er offen: „Keiner! Um nicht wie ein Hund zu krepieren, wollte ich mich einfach an der Stelle erschießen lassen!» Daraufhin wurde er drei Monate lang festgehalten und dann in unser Arbeitslager zurückgebracht».
Tabak gegen Brot
Was verlieh ihm selbst in all den Jahren die Lebenskraft? — «Ich habe mich gedreht und gewendet, um zu überleben. Ich habe aufgehört zu rauchen und tauschte meinen Tabak gegen Brot um. Bei der Goldwäsche steckte ich mir kleine Goldpartikel in den Mund, die ich dann den auf freiem Fuß Lebenden gegen Tabak tauschte, den Tabak machte ich dann zu Brot». Er behauptet, seine Energie und sein Lebenswillen hätten ihn am Leben erhalten. Und seine Gedichte, die er in den kurzen Nächten schrieb und von denen viele Hefte von der Lageraufsicht beschlagnahmt wurden. Und dennoch: «Egal, wie viel Lebenskraft in Einem steckt, raffen zehn Jahre solcher Höllenarbeit selbst den stärksten Mann dahin».
Er hätte erst 1958 freigelassen werden müssen. Da er aber gut arbeitete und ihm das gutgeschrieben wurde, durfte er bereits 1952 raus. Seine Frau legte den Weg von 12 000 km zurück, um mit ihm zusammen bei der Kohleförderung zu leben. Seine Tochter, die er nach deren Geburt nicht gesehen hat, war bereits 17! 1953 gebar ihm seine Frau ein drittes Kind, einen Sohn.
Erst als Stalin gestorben war, durfte er von der Kolyma weg. Und dennoch war er vollkommen rechtlos, ein so genannter lischenets, dem nach der Haftstrafe alle Bürgerrechte abgesprochen wurden. Er durfte sich nicht näher als 100 km in der Nähe der Großstädte ansiedeln. Leningrad durfte ich lediglich 24 Stunden lang besuchen». So kamen Pawel Galizki und seine Familie in die Nähe von Tula, wo er in einem Kohlenbergwerk als Chef einer Zeche arbeitete. Jene Siedlung bestand zur Hälfte aus ehemaligen Häftlingen. 1957 wurde er rehabilitiert. Aber in die Stadt seiner Jugend, nach Leningrad kehrte Pawel Galizki erst 1983 zurück.
Das richtige Glück sei ihm in seinem Leben zweimal beschert worden: Zum ersten Mal, als er vom Arbeitslager Abschied nehmen und ein neues Leben anfangen durfte. Vor Nikita Chruschtschow, dem damaligen Staatschef der Sowjetunion, habe er einen riesengroßen Respekt, denn „dieser Mann ist über seinen Schatten gesprungen, als er Stalins Kult demontierte». Zum anderen fühlte er sich vollkommen glücklich, als er 1983 nach Leningrad zurückkehrte, um dort mit seiner zweiten Frau bis 2006 glücklich zusammen zu leben.
«Ein Mann seines Wortes»
Pawel Galizkis Glück ist auch seine große Familie, vor allem aber sein jüngstes Enkelkind Dmitrij (20), der in seiner Nähe lebt und den Großvater regelmäßig besucht. „Der Großvater ist meine Idealvorstellung von einem Mann. Ich liebe ihn über alles und möchte unbedingt so werden wie er: Er ist die wichtigste Person meines Lebens, ein Mann seines Wortes, immer voller Energie und Optimismus und immer hilfsbereit», sagt Dmitrij.
Seit seiner Kindheit hat sich Dmitrij mit seinem Großvater über dessen Schicksal und die russische Geschichte unterhalten. Dank dem Großvater kann sich Dmitrij den Alltag in der Sowjetunion sehr bildhaft ausmalen: «Ich stelle mir alles in Grautönen vor. Es war eine Zeit der großen Wirren, und die Menschen hatten es damals in der Tat äußerst schwer. Hört man sich jedoch unsere Rentner heute an, könnte man zur Schlussfolgerung gelangen, in der Sowjetunion sei alles viel besser gewesen als heute. Doch ich bin überzeugt, dass das überhaupt nicht stimmt».
Seine Altersgenossen interessieren sich für Politik und Geschichte in der Regel wenig, sagt Dmitrij. Er persönlich diskutiere aber oft mit seinem Großvater über die Zustände im modernen Russland. «Leider ist unser Land von den westlichen Werten immer noch sehr weit entfernt. Es gibt bei uns weiterhin keine Rede- und keine Persönlichkeitsfreiheit. Unser Volk wird gesteuert, eine Demokratie ist nach wie vor eine Utopie».
Pawel Galizki stimmt seinem Enkelsohn zu: Russland habe lediglich eine ‚Demokratie nach dem Putinschen Zuschnitt». Dabei müsste das Land dringend einen zweiten Nürnberger Prozess, eine Art Entsowjetisierung machen, um die Verbrecher des Stalinismus zu verurteilen. Sogar wenn die Täter von damals nicht mehr leben mögen, brauche Russland einen solchen Prozess, „damit die Menschen nicht vergessen, dass es in ihrem Land einen Terror gegen das eigene Volk gegeben hat! Solange wir den Kommunismus nicht verurteilen, wird er über unser Land wie das Schwert des Damokles hängen!».
(Tatjana Montik, DER STANDARD Printausgabe, 24.3.2009)