Tourismus wird in Georgien seit mehreren Jahren wieder großgeschrieben. Zum Beispiel kann man in der zentralen Tourismusinformation von Tiflis neuerdings nicht nur Stadtpläne der Hauptstadt gratis erhalten, sondern auch kostenlose ausführliche touristische Karten für diverse Regionen des Landes mit detaillierten Vorschlägen, wohin zu fahren und was zu besichtigen sei.
Und wenn Ski-Urlaube in den Bergen bzw. die Aufenthalte an der georgischen Schwarzmeerküste schon in der Sowjetzeit ein georgisches Markenzeichen gewesen sind, so gehören Weinbesichtigungs- und Verkostungstouren für die georgische Tourismusbranche zum Bereich der Innovationen.
In diesem Zusammenhang punktet die Region Kachetien im Osten des Landes. Sie ist seit jeher durch ihre hervorragenden Weine und reichhaltigen Obsternten bekannt. Die Touristen werden nach Kachetien nicht nur durch die reichen historischen Vergangenheit dieser Region sondern nicht zuletzt durch die in letzter Zeit einen Boom erlebenden Weingüter angezogen, von denen viele heute ihre Türen für die neugierigen Besucher öffnen.
Nun wollen auch wir Kachetien, der Heimat des berühmten georgischen Malers Pirosmani, einen Besuch abstatten. Diesmal geht es nach Sighnaghi, der ‚Stadt der Liebe’. So heißt sie, da im Zentrum dieser hoch auf den Berghängen liegenden Stadt vierundzwanzig Stunden pro Tag ein Standesamt geöffnet ist, das bei den Brautpaaren nicht nur aus Georgien, sondern auch aus dem Ausland sehr populär ist. Das erste Brautpaar, das hier heiratete, kam aus der Ukraine.
Der Weg von Tiflis nach Sighnaghi nimmt knappe eineinhalb Stunden in Anspruch. Und das dank der guten Straßen, die in Georgien in den letzten sieben Jahren gelegt wurden. Beeindruckend erscheint, dass nicht nur strategisch und wirtschaftlich wichtige Straßen, die große Städte verbinden, solide gebaut sind, sondern auch die auf den ersten Blick unbedeutend erscheinenden kleinen Dorfstraßen.
Den gesamten Weg nach Sighnaghi müssen wir beim Anblick der sich vor unseren Augen ausbreitenden Naturschönheiten ächzen und staunen und zwischendurch anhalten, um Fotos zu machen. Im zarten herbstlichen Sonnenschein ziehen an uns hohe, teilweise mit Schnee bedeckte Bergkuppeln, farbenprächtige Täler, hübsche Weinberge, uralte Kirchen, malerische Ruinen von Schlössern und Festungen vorbei. Hier und da lassen wir Herden von friedlich weidenden Schafen und Kühen hinter uns, die sich am frischgrünen Gras satt fressen, das hier nach dem heißen Sommer bereits zum zweiten Mal gewachsen ist.
An beiden Straßenseiten verkaufen die Bauern ihre selbst gemachten Käselaibe und Tschurchhella (eine süße Köstlichkeit aus eingedicktem Traubensaft und Walnüssen) sowie eimerweise Kakis, Granatäpfel, Birnen und anderes Obst – und das alles zu den sehr schonenden Preisen. Beim Passieren von Dörfern werden wir jedes Mal in Versuchung gebracht, frisches Rind- oder Lammfleisch gleich vor Ort einzukaufen, das von den Metzgern fast gleich vor unseren Augen zerteilt wird (dies beeindruckt uns allerdings nur angesichts der nicht besonders guten Versorgungslage mit Fleisch in der Stadt).
Und als wir uns langsam Sighnaghi nähern, wird uns von dem sich vor unseren Augen ausbreitenden Panorama fast schwindelig. Von einem Berghang über eine Schlucht hinweg eröffnet sich ein Blick auf den anderen Berg, wo wie auf einer Handfläche ein kleines Städtchen mit hübschen Türmen, Ziegelsteindächern und geschnitzten Balkonen liegt. Alles ist dort in einem solchen Ausmaß puppenhaft – klein und putzig, dass wir unseren Augen kaum glauben können. Nach den interessanten und abwechslungsreichen aber nicht immer für touristische Fotoalben geeigneten Perspektiven von Tiflis ist dieses ganzheitliche Stadtbild eine große Überraschung.
Später erfahren wir, dass das staatliche Programm der Stadtrestaurierung hier seit bereits vier Jahren läuft. Doch erst in den letzten zwei Jahren, als über der Erde liegenden elektrische Leitungen und Gasrohre beseitigt wurden sowie Häuserfassaden, Dächer und Balkone erneuert wurden, hatte sich die Stadt Sighnaghi sehr stark verwandelt.
In Sighnaghi angekommen, berühren uns die Innenansichten dieser Stadt weiter. Ihre alten Häuser mit kunstfertig geschnitzten Balkonen, die einwandfrei gepflasterten sauberen Straßen, die liebevoll mit diversen Bronzenskulpturen dekoriert werden, kommen uns niedlich vor. Mitten in diesem Märchenstädtchen fühlt man sich wie in einer Theaterdekoration. Denn alles erscheint irgendwie unwirklich, wenn nicht sogar ein wenig ‚nichtgeorgisch’: eine Art Personifikation des georgischen Traumes in der Vorstellung von Ausländern.
Auf einer der gemütlichen Straßen finden wir ohne Mühe das Weingut ‚Fasanentränen’, oder ‚Pheasant’s Tears’. Der zum Weingut führende Aushang ist auf Georgisch und auf Englisch ausgeschildert, in der Sprache, die nach dem Willen des Präsidenten Saakaschwili in Georgien bald zur zweiten Muttersprache werden soll. Und wir stellen fest, dass nicht nur Tiflis, sondern auch Sighnaghi hier mitspielt: Seine zahlreichen Hotels, Pensionen, Cafés und Museen locken die Touristen mit Aufschriften vor allem in englischer Sprache an. (Und dennoch spricht man hier weiterhin auch Russisch, und das nicht weniger gerne und sogar mit größerem Können als die übrigen Fremdsprachen. Die Ausnahme bilden nur die Jugendlichen, für die Russisch in der Schule kein Pflichtfach mehr ist). Die Einheimischen berichten nicht ohne Stolz, in der Hochsaison gebe es in Sighnaghi oft mehr Touristen als Stadtbewohner.
Im gemütlichen, mit zahlreichen Gegenständen des georgischen Alltags ausgeschmückten Hof des Weinguts fällt uns eine große Holzwanne auf, die zum Zerstampfen der Weintrauben (in Georgien – mit Männerfüßen!) dient. Dies ist allerdings eine Rarität, die in dieser Region bei Ausgrabungen gefunden wurde. Im antiken Georgien hatte man darin bereits im 6. Jahrhundert vor Christi Wein angesetzt!
Ihren Besuchern erzählen die Georgier gerne eine folgende Geschichte. Als Herrgott die Länder an die Völker verteilt hatte, kamen die Georgier zu spät. Der Herrgott wurde böse und fragte sie, wo sie denn gewesen seien, als alle Völker nach Land anstanden. Daraufhin erwiderten sie, ohne sich ihrer Schuld bewusst zu sein: „Wir fuhren langsam und tranken, oh Vater, den ganzen Weg auf deine Gesundheit!“ Darauf der Herrgott: „Das will mir aber gefallen! Ich sehe: Ihr seid ein gutes Volk, und ich werde euch ein sehr schönes Land in den Bergen schenken, das ich eigentlich für mich selbst reserviert habe!“ Und er schenkte ihnen Georgien, das begnadetste Land auf Erden.
Auf der Terrasse des Weinguts, das gerade für Weinverkostungen hergerichtet wird, werden wir von einer freundlichen Frau auf Russisch begrüßt. Ihr leichter amerikanischer Akzent ist kaum auffällig. Sie heißt Amanda Blasko und war früher Professorin für Russisch und Fachfrau für Osteuropa, den Kaukasus und Zentralasien an einigen amerikanischen Universitäten. Als sie einmal im Rahmen eines Studentenprogramms nach Georgien kam, wusste Amanda, dass ihr Leben grundlegend umgekrempelt gehörte. Und ohne lange zu überlegen, tauschte sie ihre Heimat gegen Kachetien aus, wo sie sich ein Häuschen kaufte und im Weingut ‚Fasanentränen’ Gruppen führt und Öffentlichkeitsarbeit macht.
In Sighnaghi ist Amanda nicht die einzige Enthusiastin fremder Herkunft. In diesem Städtchen mit nur drei Tausend Einwohnern sollen ganze 30 Personen ausländischer Staatsbürgerschaft leben! Eine der markantesten von ihnen ist eine Dame aus London, die nach der Pensionierung ihrer Heimat den Rücken kehrte und nach Georgien zog. Nun vertreibe sie sich ihre Zeit damit, mitten in den georgischen Bergen entspannt das Leben zu genießen und mit den hiesigen Hausfrauen zusammen schmackhafte georgische Gerichte zuzubereiten. Verwunderlich ist solch eine Entscheidung nicht, ist doch das Leben in Georgien tatsächlich um einiges entspannter und günstiger als in London.
In Georgien werden Fremde verehrt und geachtet. Und bemerkenswert ist, dass die Herkunft der Gäste keine Rolle spielt. Manchmal entsteht hier sogar der Eindruck, dass die Georgier ein besonderer Menschenschlag sind, die nur dafür leben, einen Gast zu empfangen und ihn ordentlich zu bewirten.
Die Georgier sind erstaunlicherweise ziemlich selbstkritisch. Sie behaupten, wenig ambitioniert und sogar faul zu sein, dafür aber immer aufs Feiern aus zu sein. Und oft hört man: In ihrem Land seien es nur die Armenier, die eine ordentliche Arbeitet leisteten.
Noch eine bemerkenswerte Person in Sighnaghi ist Amandas Kollege vom Weingut, Künstler John Wurdeman. Er hatte unter anderem an der Surikow-Akademie in Moskau die Kunst des russischen Realismus studiert. Nach Kachetien kam John, um da seine Landschaften im Stil des russischen Realismus zu malen. Das Ergebnis war: Natur- und Weinliebhaber John verwandelte sich in einen Profi, nachdem er zusammen mit einem georgischen Freund das Weingut ‚Fasanentränen’ eröffnet hatte.
Der Ausdruck ‚Fasanentränen’ kommt aus der kachetischen Folklore. Im hiesigen Volksmund wird erzählt, die Tränen des Fasans seien besonders rein. Oft wird eine attraktive Frau beschrieben, indem man sagt: Fasane würden angesichts dieser Schönheit Tränen der Freude weinen. Ein Wein kann genauso wunderbar sein wie die Tränen des Fasanen. Das Schlüsselwort lautet ‚Tränen der Freude’. Die Erzeugung des Weins ist ebenfalls eine fröhliche Beschäftigung, muss doch dabei kein Bauer unter allzu schwerer Arbeit leiden.
John Wurdeman feiert in seinen Bildern die Schönheiten Kachetiens und die Arbeit der Weinbauern., Er stellt sie in der Vorhalle des Weinguts für die Besucher aus, die bei Weinverkostungen im romantischen altgeorgischen Ambiente auf die Art mehreren Künsten gleichzeitig huldigen können. .
Für die Verkost ung selbst werden wir von einem Fremdenführer ins Dorf Tibani im Alasani-Tal begleitet. Dort liegt eine der Kellereien des Weinguts ‚Fasanentränen’.
Um ins Dorf zu kommen, müssen wir von dem über 800 m über dem Meeresspiegel liegenden Sighnaghi nach unten fahren. Auf dem Weg dorthin passieren wir das Tor einer alten 6 km langen Stadtmauer, die entgegen dem sonstigen zerstörerischen Einwirken der Jahrhunderte bis in unsere Zeit perfekt erhalten geblieben ist. Auf einem Teil dieser Mauer kann man heute spazieren gehen, um dabei einen unendlichen Atem beraubenden Ausblick Blick auf das Alasani-Tal zu genießen. Das Letztere wird von der Großen Kaukasischen Bergkette umrahmt, wo linkerhand Tschetschenien und rechterhand Dagestan liegen.
Unser Fremdenführer präsentiert uns eine Kellerei des Weinguts. Hier werden die Weintrauben gleich vor Ort geerntet, angesetzt, verarbeitet und gelagert. Dies alles muss schnell erfolgen, damit die Trauben nicht von der Sonne erhitzt werden und die Weinqualität dadurch nicht beeinträchtigt wird.
Alle Weine werden nach alter georgischer Technologie erzeugt, nach der die Weintraubenschale von der Beere nicht getrennt wird, so dass zum Gären die ganzen Trauben angesetzt werden. Und erst nach Ablauf von einigen Wochen werden die Schalen abgesondert und der Wein wird in mit Bienenwachs eingeschmierte Tonkrüge von 5 Tonnen Fassungsvermögen umgefüllt, die dann im Weinkeller in die Erde eingegraben werden. Die Bienenwachsschicht auf den Krügen soll verhindern, dass Bakterien und Luft in den Wein gelangen. Die Weinfiltration erfolgt auf natürliche Weise, da der Wein bei seiner Reifung von einem Krug in den anderen mehrmals umgefüllt wird, wobei der Bodensatz jedes Mal unten bleibt.
Kein Wunder, dass diese recht ungewöhnliche Technik der Weinproduktion viele Touristen neugierig macht. Vom Ende März bis Ende November wird das Weingut von den Touristengruppen aus aller Welt aufgesucht – aus den USA, Skandinavien, Zentraleuropa, Israel und sogar aus Japan. Russische Gäste sind in den letzten Jahren allerdings selten geworden, was die Weinbauern aufrichtig bedauern.
Und nun sind wir endlich bei der Verkostung der ‚Fasanentränen’ angelangt. Und wir stellen fest: Diese Weine haben tatsächlich einen unnachahmlichen Geschmack, Der hiesige Weißwein schmeckt ungewöhnlich intensiv, weshalb er zu Recht als Bernsteinwein, amber wine, bezeichnet wird. Nach seiner Intensität und dem Bukett zu urteilen, kann ein solcher Wein leicht seinem roten Artgenossen Konkurrenz machen. Und den Rotwein nennt man hier Schwarzwein – wegen seiner intensiven dunklen bordeauxroten Farbe und dem Geschmack, der viele alte teuere Rotwein aus Europa und der Neuwelt spielerisch übertreffen könnte. (Nicht von ungefähr bekamen vor kurzem die Weine des Weinguts ‚Fasanentränen’ von einer bekannten Weinkritikerin der britischen Financial Times ganze 17 Punkte von 20).
Bei der Verkostung erfahren wir, dass in den knapp fünf Jahren seit der Gründung ihres Unternehmens die Enthusiasten dieses Weinguts einige alte Weinsorten wieder belebt haben, die im letzten Jahrhundert in Vergessenheit geraten waren und die unseren Zeitgenossen lediglich als Überlieferung aus den Werken der schöngeistigen Literatur bekannt waren. Es handelt sich um die alten georgischen Weine Shavkapito und Tavkveri, die bei den großen Tafelrunden der georgischen Könige getrunken wurden. Inzwischen hat man im Weingut ‚Fasanentränen’ ein so genanntes Weinmuseum unter offenem Himmel angelegt, in dem bald 300 der insgesamt 500 in Georgien vorhandenen Rebsorten wachsen sollen.
Bei dieser ungewöhnlich informativen Weinverkostung erfahren wir, dass das russische Handelsembargo, das 2007 gegen die georgischen Weine verhängt wurde, den georgischen Weinbauern entgegen allen Erwartungen gute Dienste geleistet hat. Denn der Wegfall des umfangreichen russischen Marktes hatte bewirkt, dass die Bauern in ihrem Bestreben, auf internationalen Märkten konkurrenzfähig zu sein, anfingen, sich mehr der Qualität ihrer Weine zu widmen und von der Massenproduktion Abstand nahmen. Inzwischen haben die biologisch erzeugten kachetischen Weine nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika ihre Liebhaber gefunden. Auch wir machten keine Ausnahme und wurden zu deren dankbaren Konsumenten… Aber schließlich war ja auch in Österreich der Weinskandal der Achtzigerjahre der Ausgangspunkt einer Renaissance des Qualitätsweinbaus.
In der Abenddämmerung verließen wir Kachetien. Der in zarte Rosa-Töne gefärbte Himmel und die wie Fata morgana anmutenden Gebirge ließen das Alasani-Tal als eine unwirkliche Landschaft erscheinen. Die Natur um uns herum war zu schön, um wahr zu sein. Dies brachte uns auf den Gedanken, nach Kachetien unbedingt noch einmal zu reisen, nicht zuletzt, um uns zu vergewissern, dass wir von all dem Erlebten nicht geträumt haben.